Unsere Welt

fineDatum: Montag der 24.11.2014
Mittagsposition: 16°34,5′ N; 023°51,9′ W
Etmal: 128 sm
Wetter: Lufttemperatur: 24,5° C, Wassertemperatur: 25,5°C, Wind: NE4
Autorin: Fine

„Hol durch den langen Bullen, hol durch die Gei!“ höre ich plötzlich ganz dumpf. „Und fest und belegen.“ Es scheint von ganz weit weg zu kommen, aber woher? Mit dem Kommando „Klar Deck an allen Stationen“ wache ich dann schließlich ganz auf. Einige Regentropfen landen in meinem Gesicht und der Wind zerzaust meine Haare. Ach ja, ich liege draußen auf der Ladeluke. Wie spät mag es wohl sein? Nach und nach gehen alle, die vorher das Segel ausgebaumt hatten, in Richtung Achterdeck und es wird wieder still, naja, zumindest so still, wie es auf einem Segelschiff eben sein kann. Ich höre den Wind, die Wellen und ab und zu die Segel etwas killen, daran merkt man recht gut, wie sehr sich der Rudergänger versteuert. Es hat aufgehört zu regnen und ich schaue in den fast sternenklaren Himmel über mir. Ich lasse mir die letzten Tage und Wochen noch einmal durch den Kopf gehen, weil ich nicht wieder einschlafen kann.

Vor sechs Wochen etwa, der letzte Stress Zuhause, dann die anstrengende Werftzeit und die erste Etappe mit der Seekrankheit und den vielen neuen ungewohnten Dingen, an die man sich mittlerweile komplett gewöhnt hat. Anschließend Teneriffa mit der Besteigung des Teide, und jetzt schließlich die Atlantiküberquerung. Das alles ging so unglaublich schnell vorbei, wir sind nun schon in der zweiten von fünf Etappen und es fühlt sich an, als wären wir erst gestern ausgelaufen. Dabei ist die Atlantiküberquerung so anders als die erste Etappe, und damit meine ich jetzt nicht nur das Organisatorische, den Unterricht und die Brotbackschaft; nein, es gibt noch viel mehr Unterschiede.

Der erste und vielleicht wichtigste Unterschied ist die Temperatur: es ist warm. Man kann in den Pool gehen, im Bikini in der Sonne liegen und das gesamte Leben spielt sich eigentlich draußen ab. Das ist für uns schon fast normal geworden. Wenn man aber einmal daran denkt, wie es gerade bei uns zu Hause ist, fällt einem auf, dass es ganz und gar nicht normal ist. Das Leben auf der Thor ist wie ein Leben in einer anderen Welt, die Thor ist eine kleine Welt inmitten der eigentlichen großen Welt. Man lebt hier anders als zu Hause und hat ganz andere Maßstäbe.
Wir leben nicht nach der Schulglocke oder dem Busfahrplan, sondern nach unserem Wachrhythmus und den Mahlzeiten. Die Mahlzeiten hier haben einen viel höheren Stellenwert als Zuhause. Auch alltägliche Dinge wie Schlafen und Duschen lernt man auf der Thor viel mehr zu schätzen. Bevor man zum Unterricht geht, muss man keine Hausaufgaben machen, sondern sich eincremen, weil man draußen in der Sonne sitzt. Im Deutschunterricht schwappt allen Schülern das Wasser um die Füße, der Bunsenbrenner im Chemieunterricht ist ein Teelicht und wenn es mal wieder heißt „Delfine an Steuerbord!“ springen alle auf und rennen an die Reling.

Man spielt in der Freizeit nicht an seinem Handy oder sieht fern, sondern sitzt in der Sonne und schaut aufs Wasser. Alle paar Minuten sieht man einen Schwarm fliegender Fische aus dem Wasser kommen, durch die Luft gleiten und dann wieder ins Wasser prasseln, als hätte man eine Handvoll Steine hinein geworfen. Wir können nachts draußen schlafen und werden morgens nicht vom Wecker, sondern mit der Frage: „Welche Farbe hat Preiselbeermarmelade?“ oder einer Matheaufgabe geweckt.
Außerdem ist man nie allein. Das war am Anfang etwas komisch, aber mittlerweile ist es vollkommen normal und man fühlt sich unwohl, wenn man mal fünf Minuten alleine in der Kammer ist. Man erlebt hier so viele tolle Dinge und macht so viele Erfahrungen, ich denke jeder und jede von uns wird das ganze Leben von diesen Erfahrungen zehren können. Das klingt jetzt so als wäre in unserer „Welt“ immer alles gut und toll, aber das stimmt natürlich nicht.

Auch hier gibt es Probleme und Sorgen, aber es sind eben ganz andere als zu Hause. Man hat Heimweh oder fragt sich, warum man das hier überhaupt macht, wenn man seekrank im Bett liegt. Aber wenn man dann die Sonne im Gesicht spürt oder Delfine am Bug sieht, weiß man wieder, warum, und wünscht sich, dass diese Reise ewig weiter geht.
Ich sehe eine Sternschnuppe am Himmel, schließe die Augen, und wünsche mir etwas. Als ich die Augen wieder öffne, ist es hell und ich werde von der Sonne geblendet. Ich muss wohl doch wieder eingeschlafen sein.

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