Datum: Sonntag, der 26.04.2015
Autorin: Katha
Allerliebste Thor-Familie,
wo seid ihr? Was macht ihr? Wie geht’s euch?
Es ist so seltsam ohne euch. Alles ist so seltsam. Es ist schön hier, aber seltsam.
Stellt euch vor, ich kann hier einfach zum Kühlschrank gehen und mir einen Himbeer-Joghurt herausnehmen, wann immer ich möchte, oder auch zwei oder drei oder fünf. Dabei reichen mir doch zwei Esslöffel Naturjoghurt. Ich habe hier auch ein zwei Meter breites Bett zur Verfügung, doch ich verwende nur 80 Zentimeter, unnötigerweise sturmfest in der stabilen Seitenlage.
Der Blick aus dem Fenster ist voller Grün, verziert mit bunten Blumen, denn der Frühling erwacht. Wie lange ich mich auf zwitschernde Vögel gefreut habe… aber jetzt? Ich würde doch beim morgendlichen Zähneputzen so gerne aus dem Schott rausgucken, auf das unendlich weite Blau des Meeres, kurz abchecken, wie kalt es ist und welche Segel gesetzt sind, dem Ausguck mit der freien Hand winkend einen Guten Morgen wünschen.
Die Auswahl im Kleiderschrank hat mich vollkommen überfordert. Ein halbes Jahr lang habe ich mir keine Gedanken mehr darüber gemacht, was wohl gut aussieht, sondern aus meinen sechs T-Shirts dasjenige herausgekramt, das am praktischsten für den Tag erschien. Hier liegen mindestens 20 auf dem Regalbrett, die alle keine Vor- und Nachteile zu haben scheinen.
Ich bin dabei, mein neues Zuhause zu akzeptieren. Neu? Ich kenne es doch so gut. Kaum etwas hat sich seit Oktober verändert, selbst meine Vokabelzettel hängen noch an der Tür und wollen gelernt werden. Und doch muss ich mich erst hier zurechtfinden.
Denn ich bin nicht mehr in diesem geschlossenem System, in unserer kleinen Thor-Welt, wo ich jeden an einem Ausschnitt des Hosenbeins erkenne oder an der Art und Weise, wie er geht, am Lachen und an der Stimme sowieso. Ich bin nicht mehr in meinem geliebten Zuhause und doch bin ich Zuhause. Wo bin ich denn Zuhause? Wo will ich denn sein? Ich weiß es nicht. Bis ich es weiß, beschäftige ich mich damit, ständig Unterschiede herauszufinden und mich möglichst unauffällig zu verhalten.
Gar nicht so leicht, daran zu denken, das Glas mehr als die Hälfte aufzufüllen, weil hier ja kein Seegang das Osmose-Wasser, das keines mehr ist, über den Rand schwappen lässt. Muss ich hier jetzt die oder das Nutella sagen, stellt sich die Frage, denn ich verwende nicht mehr meine gewohntes Deutsch. Der Mix aus all den Dialekten von Bord hat alles überlagert, viele Redewendungen sind überhaupt nicht mir.
Jeder von euch ist ein Teil von mir geworden, von jedem habe ich ein Stückchen geschenkt bekommen, unbewusst kopiert oder vielleicht geklaut. 50 Puzzleteile, die zusammen ein Stückchen neues Ich geschaffen haben. Doch ohne euch in direkter Nähe wirken sie so leer, so falsch. Sie gehören hier nicht her. Aber sie gehören zu mir. Gehöre jetzt ich nicht hierher?
Entschuldigt bitte, falls mein Gefasel etwas zusammenhangslos erscheint. Nur ist einfach dieser Brief an euch, meine Liebsten, ebenso unstrukturiert wie das Gefühlschaos, in das mich die Rückkehr gestürzt hat.
Ich hoffe sehr, wenigstens ihr kommt bereits in der Parallelwelt zurecht und seid wohlbehalten von der Thor-Welt in die Realität umgezogen. Wenn nicht, vielleicht hilft euch ja der Spruch, an den auch ich mich klammere: „Weine nicht, weil es vorbei ist, sondern lächle, weil es so schön war.“ Dann denke ich lächelnd an einen der vielen faszinierenden Momente, die so weit weg sind und doch so präsent, mit einer nur ganz kleinen Träne im Auge…
Ich drücke euch in Gedanken unglaublich fest und lasse euch am Besten nie wieder los, ihr wertvollen Puzzleteile. Danke für dieses wundervolle Leben in unserer unglaublichen, eigenen Welt!
In Liebe,
eure Tassennummer 24