Datum: Samstag , der 04.11.2017
Mittagsposition: 38°34,3‘N; 013°02,5‘W
Etmal: 132 sm
Wetter: Lufttemperatur 19°C, Wassertemperatur 20°C, Wind: NNW 4-5
Autorin: Hanna
Elena hat einen Vogel, oder eigentlich haben wir alle einen Vogel.
Zumindest seit wir aus dem Hafen von Falmouth ausgelaufen sind. An Land
sind Vögel etwas Alltägliches, sie gehören fast überall zum natürlichen
Landschaftsbild und erregen deshalb selten Aufsehen. Auch auf dem Meer
sind Vögel keine Seltenheit, wenn man im Ausguck steht und minutenlang
sowohl das aufgewühlte Meer als auch den wolkenverhangenen Himmel
betrachtet, sieht man oft Möwen kreisen. Aber wir haben einen anderen
Vogel. Unserer ist weder groß, noch schmutzig weiß und stürzt sich auch
nicht auf Fischabfälle, sondern klein und pummelig mit braunem Gefieder,
gelb weißen Flügeln und grünlich schimmernd an der Unterseite. Unser
Vogel würde ganz sicher toten Fisch verabscheuen und Haferflocken
bevorzugen. Der natürliche Lebensraum unseres Vogels ist auch sicher
nicht das Meer mit seiner salzigen Gischt, sondern eher leicht im Wind
wehende Büsche am Ufer eines kleinen Flusses. Unser Vogel gehört nicht
auf ein Segelboot, sondern an Land. Er hat sich verirrt und kämpft jetzt
um sein Überleben.
Anfangs ist uns das kleine Ding gar nicht aufgefallen. Beim Auslaufen
hatten alle 96 Hände was zu tun und die 48 Augenpaare waren über Stunden
hinweg abgelenkt. Auch blieb das Federvieh nicht auf einer Stelle
sitzen, sondern hüpfte von Ort zu Ort. Mal saß das Tier auf der Reling,
dann auf dem Schanzkleid, später auf dem Deckshaus (Rechteckiger Aufbau
mittig auf dem Hauptdeck, umfasst Kombüse und die Sanitäranlagen). Erst
Stunden später, als wir auf dem Hauptdeck im Sonnenuntergang saßen und
den Seekranken seelischen Beistand leisteten, fiel Elena das Vögelchen
auf. Anfangs erfreuten wir uns an dem Anblick, später beobachteten wir
nur noch. Doch als auch am nächsten Tag der Vogel zwar weg flog, wenn
sich ihm eine Person näherte, aber keine Anstalten machte die Thor zu
verlassen, ergriff Elena „Vogelrettungsmaßnamen“.
Zuerst wurden Brotbrösel aus der Kombüse vor dem Biomüll bewahrt und zu
Vogelfutter umfunktioniert, später suchten wir verzweifelt einen Weg,
dem Vogel eine Möglichkeit der Flüssigkeitsaufnahme zu beschaffen. Zwar
sind wir kilometerweit von Wasser umgeben und überall auf der Thor
Heyerdahl sind kleine Wasserpfützen, doch eignet sich dieses Wasser
weder für den Menschen noch für einen kleinen, süßen Vogel, als
Trinkwasser. Die erste Idee war irgendwo künstlich Süßwasserpfützen zu
erzeugen, da das Deck aber regelmäßig von Salzwasser überspült wird,
ließen wir diese Idee sofort wieder fallen. Die zweite Idee, ein
Plastikschüsselchen mit Wasser zu befüllen und zwischen die
Sicherheitsleinen zu klemmen, die quer über das Hauptdeck gespannt sind,
scheiterte an Windböen und der Schwerkraft, die die Schüssel wieder auf
das Deck beförderten.
Die vorzeitige Lösung war, das Wasser zum Vogel zu bringen. Da der
Hauptaufenthaltsort unseres Schiffstieres auf dem Deckshaus ist, ist die
naheliegendste Idee gewesen, die Schüsseln mit dem Süßwasser und die
Schüssel mit dem Müsli, in einer windgeschützen Ecke auf dem Deckshaus
zu platzieren.
Da der Fink (von Tobi dem Biolehrer eindeutig identifiziert) nun schon
fast eine Woche bei uns auf dem Schiff wohnte, hielten wir es für
angemessen, die Brotbrösel durch Müsli zu ersetzten, um allen Lebewesen
auf der Thor einen abwechslungsreichen Speiseplan zu garantieren.
Das Problem war vorerst gelöst. Dachten wir zumindest. Denn sobald das
Vogelmenü auf dem Deckshaus stand, zog unser Gast es vor, auf dem
Achterdeck (ganz hinten auf dem Schiff, dort steht auch das Ruder und
der Kapitän) herum zu hüpfen. Anstelle des Müslis pickte der Fink
Zwiebackbrösel und tapste zwischen den Gummistiefeln der Wachhabenden
umher. Da wir den Vogel lebend wieder auf Teneriffa auswildern wollen,
versuchten wir ein zweites Mal, das Futter zum Vogel zu bringen.
Bisher verschmäht das Tier seine Nahrung auch auf dem Achterdeck, doch
wie man so schön sagt: „der Hunger treibt‘s schon rein“.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, denn schließlich will Elena ihren Vogel
behalten.