Fünf Monate und zehn Tage

Mathilda

Datum: Samstag, der 31.03.2018
Mittagsposition: 39°54,7‘ N; 024°17,2‘ W
Etmal: 237 sm
Wetter: Wassertemperatur: 16°C, Lufttemperatur: 16,5°C, Wind: SW 5
Autorin: Tilli

Zuhause, im Alltag, nimmt man die Zeit ganz anders wahr als an Bord. Oder vielleicht ist es ja auch anders herum, und die Zeit an Bord verhält sich anders als an Land. Minuten können sich wie Stunden anfühlen, Sekunden wie Minuten. Oder eine halbe Stunde vergeht in einem Wimpernschlag, während der ganze Tag ungebremst schnell an einem vorbeizieht.

Es ist so eine Sache mit der Zeit, dass sie sich nicht einfangen lässt. Sie lässt sich nichts aufzwingen und geht ihre Bahnen so wie sie will. Sie lässt einem keine Wahl, egal ob der Moment so schön ist, dass man ihn nie wieder loslassen will, oder ob man gerade einen schlechten Tag hatte, den man so schnell wie möglich hinter sich bringen möchte.

Früher habe ich mir oft vorgestellt, dass die Zeit der Welt in einem Stundenglas abläuft, immer weiter der Sand durchläuft, unendlich, unerbittlich und ohne Ausweichmöglichkeiten. Und gleichzeitig habe ich mich gefragt, wie es sein kann, dass man sie so unterschiedlich wahrnehmen kann, nervenaufreibend lang gezogen oder erschreckend kurz. Eigentlich könnte man annehmen, dass die Zeit böse Absichten hat, weil je schöner der Moment, desto schneller vergeht sie. Aber wenn man mal darüber nachdenkt, dann wird einem klar, dass diese Verzerrungen der Zeit nur in unseren Köpfen, in unserer eigenen, individuellen Wahrnehmung stattfinden. Denn wenn man ein Stundenglas betrachtet, fließt der Sand immer gleich schnell.

Gerade für uns hier geht die Zeit besondere Wege. Am Anfang der Reise, als wir uns noch nicht so gut kannten, kamen uns die Wachen vielleicht endlos lang vor, und das Putzen als unnötige Zeitverschwendung an einem sowieso schon viel zu vollem Tag. Gleichzeitig kamen die Schlafstunden einem viel zu kurz vor, genau wie die lustigen Abende mit den anderen.

Das alles hat sich im Verlauf der Reise verändert. Die Wachen gestalten sich unterhaltsam und man freut sich, mit den Leuten Zeit zu verbringen, und das Putzen ist fast immer ein sehr witziges Unterfangen. Das Leben hier fällt uns immer leichter und wir gewöhnen uns an fast alles. Trotzdem gibt es natürlich auch Dinge, die einem nach all der Zeit immer noch schwerfallen, und das ist bei jedem unterschiedlich. Die allgemeine Stimmung an Bord hat viele Hochs und Tiefs erlebt, was ja auch normal ist, aber trotzdem die Stimmung des einzelnen sowohl positiv als auch negativ beeinflussen kann.

Inzwischen ist doch so viel Zeit vergangen, auch wenn man am Anfang dachte, sechs Monate seien eine halbe Ewigkeit. Sechs Monate ohne die Familie, ohne die Vertrautheit von zu Hause. Manche fieberten am Anfang mit Abenteuerlust und schier endloser Energie allem entgegen, was uns erwartete. Andere waren zurückhaltender, mit mehr Vorsicht, aber trotzdem haben wir uns alle zusammen auf die Reise gewagt. Der Anfang war aufregend, aber auch schwer. Nach dem Eingewöhnen wurde es dann leichter.

Doch jetzt, nach fünf Monaten fängt man an zu merken, was sich alles verändert hat. Wie wir uns verändert haben. In den Wachen, besonders im Ausguck, denkt man wieder öfter an zu Hause und in den seltenen Momenten der Stille fragt man sich, wie das Leben danach weitergehen wird. Aber auch wenn die Zweifel mal Überhand nehmen, ist da immer jemand, zu dem man gehen kann. Uns ist bewusst, wir sind hier nicht alleine.

Soviel wertvolle Zeit ist verstrichen, und uns allen wird langsam bewusst, dass das Ende naht. Die Azoren, unser letztes offizielles Reiseziel, liegen inzwischen hinter uns, und die Tage lassen sich beinahe leicht zählen. Unbarmherzig rinnt die Zeit weiter voran, aber wir wissen, dass es jetzt darum geht, die letzten gemeinsamen Wochen zu genießen und alles, alles mitzunehmen was wir können. Denn jeder Tag könnte noch der Schönste der Reise sein.

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