Ein normaler Schultag: Auf der Thor vs. Zuhause

Helen

Datum: 22.11.2018
Mittagsposition: 19° 26,0′ N; 036° 24,5′ W
Etmal: 134 sm
Wetter: Lufttemperatur: 27 °C; Wassertemperatur: 25 °C; Wind: NNE 5
Autorin: Helen

Aufstehen & Frühstück Zuhause

Um 5.45 Uhr reißt mich das nervtötende Piepsen meines Weckers aus dem Schlaf. Nachdem ich drei Mal die Schlummertaste gedrückt habe, muss ich einsehen, dass es recht unwahrscheinlich ist, dass meine Schule über Nacht abgebrannt ist oder ich 40°C Fieber habe. Länger liegen bleiben würde nur bedeuten, auf das Frühstück verzichten zu müssen. Ins Bad und wieder zurück. Anziehen. Schulranzen richten. Das Haus ist noch stockdunkel und das Mathebuch, das mir herunter fällt, erschreckend laut. Leise höre ich auch schon den Wecker meines Bruders klingeln.
Der schafft es irgendwie, eine halbe Stunde nach mir aufzustehen und trotzdem immer vor mir am Tisch zu sitzen. Auch mein Vater muss schon so früh los und leistet uns Gesellschaft. Es gibt Toast mit Aufstrich, aber für mehr als eine Scheibe und das Vesper-Richten reicht die Zeit nicht. In meinem gedanklichen Zeitplan hinke ich schon wieder hinterher und als ich endlich fertig bin, sause ich mit meinem Fahrrad und vier Minuten Verspätung den Berg herunter in Richtung Schule.

Aufstehen & Frühstück auf der Thor

„Helen“, „Helen“, „Helen?“, flüstert es um 5.45 Uhr in drei verschiedenen Tonhöhen durch meine Kammer. „Du hast heute Backschaft“, fährt Luki überzeugt fort. „Ähm, nee“, ist meine verschlafene Antwort. „Ich habe heute Unterricht. Erst morgen dann Backschaft.“ Nachdem ich ihn davon überzeugt habe, dass heute Donnerstag und nicht Freitag ist, darf ich weiterschlafen, bis Luki nochmal und dieses Mal auch zur richtigen Zeit um 7.30 vorbeikommt. Wie Zuhause brauche ich eine Weile, um mich von meiner Koje zu verabschieden und gehe dann erstmal die Waschmaschine mit unserer Kammerwäsche anwerfen. Auf der Suche nach meinem Handtuch fische ich schon mal mein Mäppchen für später unter einer Kleiderschicht hervor und gehe Zähneputzen. Zu dieser Zeit herrscht auf dem Schiff schon reges Treiben und so stehe ich kurz später mit Mirte, meiner Geschichtslehrerin, im Bad vor dem Spiegel. Immer noch im Schlafanzug geht es dann in die Messe zum Frühstücken. Weil der Donnerstag Seemannssonntag ist, gibt es heute zu unserem selbstgebackenen Brot auch noch Spiegeleier und warme Brötchen. Die 100-ml-Ration Orangensaft wird zwar leider nicht erhöht, aber dafür frühstückt man mit Freunden, Lehrern und Segelstamm und lacht und redet viel. Wenn man seinen Platz strategisch klug gewählt hat, muss man zwischendurch auch nicht aufstehen, damit die Fahrwache auf der Sicherheitsrunde in die Bilge unter der Bank schauen kann. Nach ca. 20 Minuten gehe ich mich schnell umziehen und laufe den gesamten weiten Schulweg von 15 Metern wieder zurück in die Messe.

Schule Zuhause

Auf meiner knappen halben Stunde Schulweg sammle ich noch ein paar Freundinnen auf und komme dann gerade rechtzeitig zum ersten Klingeln um 7.25 Uhr an der Schule an. Bis ich endlich im Klassenzimmer angekommen bin, beginnt auch schon der Matheunterricht, in dem ich versuche zu überspielen, dass ich meine Hausaufgaben in dem morgendlichen Stress Zuhause auf dem Schreibtisch liegen gelassen habe. Es folgen noch fünf weitere durch 5-, 10- oder auch eine 20-Minutenpause getrennte Schulstunden: manche mehr und andere weniger interessant. Schon in der 5. Stunde sind meine Gedanken bei der leckeren Nudelbox, die ich mir in der Mittagspause in dem zehn Minuten entfernten Asia-Imbiss kaufen werde. Ab 13.45 Uhr folgen dann zwei Schulstunden Musik. Wir lesen Noten, bauen Dreiklänge, singen und klatschen, bevor ich endlich wieder in der angenehm kühlen Luft nach Hause fahren kann.

Schule auf der Thor

Pünktlich um 8.30 Uhr sind fast alle in der Messe und während die letzten auf ihre Plätze huschen, flitze ich nochmal schnell los, um meinen Taschenrechner zu holen. Von dem Beispiel der Mastschwankung gehen wir zu Sinusfunktion, Einheitskreis und Arcsin über, während in der anderen Hälfte des Raumes der Teil der Schüler, die heute normalen Wachdienst hat, versucht, möglichst leise zu frühstücken. Da der Wellengang über Nacht ganz schön zugenommen hat, bleiben wir unter Deck und gehen nur einmal kurz zum Frischluftschnappen hoch. Man merkt, wie manche mit der erneut aufsteigenden Seekrankheit kämpfen. Auf die Doppelstunde Mathe folgen zwei Stunden Geschichte. Dort lernen wir von früheren Seefahrern und Entdeckern wie Kolumbus, die wie wir auch über den Atlantik segelten. Da die Backschaft immer so kocht, dass es um 12.00 Uhr Mittagessen gibt, endet der Unterricht um Viertel vor 12 und wir essen gemeinsam ein Kürbis-Paprika-Süsskartoffel-Gericht. Weil wir noch bis 13.15 Uhr frei haben, springen Anna-Lena und ich zu noch ein paar anderen in den Pool bzw. in die Backschaft. Mit noch nassen Haaren finde ich mich dann in einer Doppelstunde Chemie wieder. Anhand eines Frontalversuchs, bei dem Jojo Zucker und Salz erhitzt, ohne die Rauchmelder zu aktivieren, und anhand eines Knetmodells behandeln wir die Organik mit ihren Kohlenwasserstoffverbindungen. Als auch das geschafft ist, gibt es um 15.00 Uhr eine kurze Kaffeepause mit himmlischen Keksen und einer halben frischen Kiwi.
Damit wir uns bald einigermaßen verständigen können, haben wir jeden Schultag einmal Spanisch. Wir üben Smalltalk und lernen immer neue Wörter und wie man z.B. Fragen stellt oder Verben konjugiert. Gleich danach folgt auch schon unser Wahlpflichtkurs. Denn wir durften uns alle ein zusätzliches Fach aussuchen. Weil die Nautiker schon die Messe besetzt hatten, entscheidet sich mein Meeresbiologiekurs für Kammer 2 als Besprechungsort (natürlich bei offener Tür und offenem Oberlicht). Heute gehen wir ans Fischesezieren und lernen dafür zunächst die verschiedenen Fisch-Körperteile kennen. Seziert wird natürlich an Deck. Wir bekommen Plastiktellerchen und fast jeder einen eigenen Fisch (bzw. Kalmar). Die nächsten beiden Stunden hantieren wir mit Skalpellen, Scheren und Pinzetten an unseren Fischen und es lassen sich schnell Präferenzen ziehen, von wem man am ehesten operiert werden wollen würde. Nach einer ehrenvoller Seebestattung unserer zerfledderten Fischkadavar müssen wir erstmal gründlich putzen. Verletzt hat sich trotz Wellengang zum Glück niemand. Als wir endlich fertig waren, gab es auch schon essen und wir stellten fest, dass Fischgeruch besonders hartnäckig sein kann.

Freizeit Zuhause

Den Berg wieder hochzukommen, ist leider recht anstrengend und oben angekommen, gönne ich mir erst mal ein Müsli und finde auch noch einen Apfelkuchen von Oma im Kühlschrank. Für zwei Stunden kann ich noch eine Freundinn besuchen gehen, bevor ich zum Abendessen wieder Zuhause bin. Viel zu spät fange ich mit meinen Hausaufgaben an und schlafe dann mit meinen Kopfhörern im Bett ein.

Freizeit auf der Thor

Mit Handcreme bewaffnet gehe ich weiter zu meinem Wachtreffen. Wir haben uns alle in die Bibliothek gequetscht und unsere Erfahrungen und Erlebnisse ausgetauscht. Da die Wache ja durch die verschiedenen Unterrichtsgruppen zweigeteilt ist, hat man nur sonntags zusammen Wache. Unsere Wachführerin Kathrin hat eine heißbegehrte Milka-Schokolade mitgebracht, die wir brüderlich und schwesterlich teilen. Gegen eine Runde Werwolf hat auch niemand etwas einzuwenden. Da es nun schon fast 21 Uhr ist, gehen die ersten schon ins Bett, treffen sich noch in einer Kammer oder schreiben Tagebuch. Hausaufgaben bekommen wir hier zum Glück nicht, weshalb genug Zeit ist, noch zu reden oder mein in Teneriffa gekauftes Kakaopulver auszuprobieren, bevor ich um ziemlich genau die gleiche Uhrzeit wie Zuhause (um halb elf) in meine Koje plumpse. Nachdenklich betrachte ich meine Kojenwand, an der ich mit Magneten meine Fotos von daheim aufgehängt habe. Den Schulstoff, den wir heute behandelt haben, lernen unsere Mitschüler im Klassenzimmer. Wir dagegen müssen aufpassen, dass unsere Blätter nicht im Meer versinken und die Bänke an Deck vom Seegang nicht umkippen. Auch wenn wir viel weniger Zeit haben, um den notwendigen Stoff zu behandeln, haben wir hier die Möglichkeit praxisbezogen zu lernen. Denn wie lernt es sich besser über Fische, als an einem Exemplar, das übermütig zu uns an Bord gesprungen ist? Gleichzeitig werde ich in diesem Projekt auch bestimmt noch die Möglichkeit bekommen, wertvolle Erfahrungen außerhalb des Unterrichts zu sammeln. Mit Bildern aus dem Regenwald und von kubanischen Straßen schlafe ich dann trotz der angestauten Hitze in unserer Kammer ein.

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