Flagge Hissen / Anker lichten

Jens

Datum: 03.04.2019
Mittagsposition: 43° 40,8‘N ; 024° 57,8‘W
Etmal: 121 sm
Wetter: Lufttemperatur: 13 °C, Wassertemperatur: 14 °C, Wind: NNW 3
Autor: Jens Ove

„Alles in meinem Leben ist Musik“, mit diesem Zitat begann Katharina ihr Referat zu Kubanischer Musik. Eigentlich ist Musik auf der Thor aber gar nicht so präsent. Außer in der Kombüse und bei Großreinschiff ist das Hören von lauter Musik nicht erlaubt. Doch dennoch ist Musik für uns alle sehr wichtig. Wenn wir in unseren Kojen liegen und über unsere MP3-Player unsere Lieblingsmusik hören, der wir auch Zuhause gerne lauschen und mit der wir schöne Erinnerungen oder besondere Menschen verbinden, gibt das ein wohliges, geborgenes Gefühl und macht sehr glücklich.

Es gibt viele Lieder, die wir auf unserer Reise gerne gemeinsam gehört haben. Lieder, welche gerne über die Bordlaptops von MP3-Player zu MP3-Player wanderten und die wir mittlerweile alle auswendig singen können. Allerdings gibt es neben diesen Liedern, die wir vermutlich ein Leben lang mit unser Reise, der Zeit auf der Thor und den für uns so besonderen Menschen verbinden werden, ein weiteres Lied, das auf andere Art und Weise mit dieser Reise zu tun hat.

Das Lied heißt „Flagge hissen / Anker lichten“ und wurde vom deutschen Rapper Samy Deluxe geschrieben.

Wie der Titel schon verrät, handelt das Lied vom Aufbrechen mit einem Schiff.

Nachfolgend möchte ich einige Auszüge des Songs auf unsere Reise übertragen und die Parallelen aufzeigen, die das Lied zu „dem“ Lied über unsere Reise hat werden lassen.

Sein MTV-Unplugged-Konzert, das er auf einem alten Frachtschiff, der MS Bleichen, im Hamburger Hafen gab, begann er mit den Worten:

„Herzlich Willkommen, meine Damen und Herren,
hier zum SaMTV Unplugged, live und direkt aus‘m Hamburger Museumshafen von der MS Bleichen.
Ihr wusstet, dass wir heute hier aufm Schiff feiern, aber was ihr nicht wusstet is:
Wir legen jetzt ab!“

Bereits bei diesem Einstieg muss ich daran denken, wie die Reise für uns begonnen hat. Natürlich wussten wir, was ungefähr auf uns zukommt, wohin es gehen sollte und wir kannten die Menschen, die uns über ein halbes Jahr begleiten sollten, aber eigentlich wurden wir in Wahrheit ins ziemlich kalte Wasser geschmissen. Denn als wir am 14. Oktober 2018 die Leinen loswarfen, hatten wir alle noch keine Ahnung vom Segeln auf der Thor, den Abläufen und, wie es sein würde, mit 50 Menschen auf 50 Metern zu leben.

„Ich sag Schiff ahoi, wir sind dann ma‘ raus n‘ bisschen unpluggen,
Willst du uns erreichen, schick uns Flaschenpost in Pfandflaschen“

Flaschenpost haben wir auf dieser Reise keine bekommen, ganz besonders für uns waren aber die Posttermine, bei denen wir Briefe von Eltern und Freunden erhielten, trotzdem. Da wir auf See nicht über unsere Handys erreichbar waren, erhielten die Briefe eine ganz besondere, neue Bedeutung für uns.

„Zeit, dass wir uns distanzieren von den ganzen Landratten“

Das war für mich ein ausschlaggebender Grund, mich bei KUS zu bewerben. Ich wollte raus. Neue Menschen, neue Länder und Kulturen sehen. Ich wollte etwas Besonderes und Einmaliges erleben, mich wirklich von den „Landratten“ distanzieren.

„Lass in See stechen,
Aye, aye, gute Idee Käpt’n,
Was Schiffsschraube – lass uns die Segel setzen“

Für viele von uns ist es das, was die Reise besonders macht. Wir stechen in See und lassen uns – so oft wie möglich – nur durch die Kraft des Windes an unser Ziel bringen. Wenn die Maschine läuft, dann die Drehzahl langsam verringert wird und sie letztlich abgeschaltet wird, bricht in der Messe eine fröhliche Stimmung mit Applaus aus, denn die Ruhe des Segelns und das Gefühl ist etwas ganz Spezielles, das vermutlich von den „Landratten“ niemals verstanden werden kann.

„Vielleicht ist dieser Kreis von Menschen unser Rettungsring,
Und dieses Boot die Arche Noah, hilft uns wegzuschwimmen,
Von dieser Flut an – Fuck, wo soll ich anfangen,
Mit der Aufzählung, was alles mit der Welt nicht stimmt.“

Ganz sicher ist die Besatzung der Thor, sowohl die mir so vertrauten Mit-KUSis, als auch der Stamm, mein Rettungsring auf der Flucht vor der Monotonie und Anonymität der alltäglichen Welt Zuhause. Diese Welt wird bestimmt durch Stress und Druck. Doch obwohl ich sagen würde, dass der Alltag Zuhause nicht nur Nachteile hat, kann er nicht gegen den bunten, spannenden und persönlichen Mikrokosmos auf der Thor ankommen. An Bord ist kein Tag wie der Andere, jeden Tag passiert etwas Neues und obwohl es auch auf der Thor einen geregelten Alltag gibt, ist es nie wirklich gleich.

„Stell dir vor, wir legen jetzt ab,
Wir durchqueren hier die Meere und wir gehen nicht an Land,
Bis wir ’ne einsame Insel in den Tropen finden.“

Wir haben nicht viele verschiedene Meere durchquert, doch zwei Atlantiküberquerungen hinter uns – etwas, von dem viele Segler ihr Leben lang träumen. Diese Möglichkeit wurde uns bereits jetzt zuteil und ich bin unendlich dankbar, mit gerade einmal 16 Jahren von mir behaupten zu können, tausende von Seemeilen mit einem Segelschiff quer über „den großen Teich“ zurückgelegt zu haben. Angekommen sind wir dann auf unserer Hinreise in der Karibik. Auf kleinen, teils unbewohnten Inseln!

„Flüchten in ’nen Traum, wo sich die Menschen vertrauen,
Keine Gitter, kein Zaun.“

Dass wir uns auf der Thor zu 100 Prozent aufeinander verlassen können und vertrauen müssen, ist selbstverständlich. Die Enge, der 50 Menschen auf einem Schiff ausgesetzt sind, lässt keine räumliche Distanz oder Trennung zu. Natürlich wünschen wir alle uns ab und zu mal einen Zaun, der uns ein wenig Privatsphäre und persönlichen Raum beschert, doch dadurch, dass wir uns alle sehr gut kennen, benötigt man gar nicht so viel davon. An Bord herrscht eine ganz besondere Atmosphäre. Eine Vertrautheit, wie auf der Thor, die von Anfang an dort war, ist eine, die ich nie zuvor mit Menschen erlebt habe, welche mir eigentlich total fremd waren.

„Hier ist nichts am Flackern, außer auf dem Meer der Mondschimmer.“

Mit dem Auslaufen in Kiel haben wir uns von sämtlichen, grellen Touch-Displays abgegrenzt. Wir lassen für ein halbes Jahr jegliche sozialen Netzwerke hinter uns, geben nachts unseren Augen die Chance, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, den Mondschein und das Licht der Sterne auf sie wirken zu lassen und starren nicht stur auf Smartphone- oder Tablet-Displays.

„Wenn jeder hier für alle sorgt, ist doch für alle gesorgt,
Es gibt kein Geld, sondern Tauschware.“

Rücksicht ist eines der Worte, das immer wieder fällt, wenn es darum geht, was uns in der Wache besonders wichtig ist. Denn auf die anderen Acht zu geben und vorausschauend zu handeln, ist unglaublich wichtig, wenn man im Team arbeiten möchte und essentiell, um auch bei Sturm und mehreren Meter hohen Wellen das Schiff sicher zu fahren.

Das Taschengeld, welches wir für unsere Reise mitgenommen haben, geben wir ab, sobald wir Häfen oder Ankerplätze verlassen. Dann beginnt das große Tauschen an Bord. Sätze wie „Ich tausche eine Tafel Schokolade gegen zwei Dosen Cola“ oder „Ich übernehme deine Backschaft, wenn du mir zwei Packungen Gummibärchen gibst“ fallen immer wieder.

„Keine Abgrenzung durch Status oder Hautfarbe,
Und Männer haben hier nicht mehr Rechte als Frauen haben, nein,
Schau dir an, wie die Kids hier aufwachsen,
Wir gründen ’ne Schule, der Lehrerstab ist herausragend.“

Niemanden hier interessiert, aus welchen finanziellen Verhältnissen wir kommen, was für Klamotten wir tragen oder aus welchem Land wir kommen. Ob wir Frauen oder Männer, Jungs oder Mädchen sind, für alle zählt nur eins: Dass wir gemeinsam eine unvergessliche Zeit erleben.

Zu unserer Zeit auf der Thor gehört auch der Unterricht. Doch unsere Lehrer sind mehr als nur autoritäre Personen, die versuchen, uns den Stoff des Lehrplans in die Köpfe zu drücken. Nein, unsere Lehrer sind auch Bezugspersonen und sie haben mit uns Spaß, lachen und singen mit uns und sind definitiv herausragend.

„Ja, ich brauch für den Traum nicht zu schlafen,
Weck mich erst auf, wenn ich da bin,
Ich sag, ich brauch für den Traum nicht zu schlafen,
Bitte weck mich erst auf, wenn wir da sind.“

Diese Reise ist für mich ein lang gehegter Traum, der am im vergangenen Oktober mit dem Auslaufen in Kiel Realität wurde. Ich kann nur allen Menschen danken, die es mir ermöglicht haben, diesen Traum nun zu leben.

In diesem Sinne: Danke ganz besonders an euch, Mama und Papa!

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