Datum: 11.02.2019
Ort: Havanna
Autor: Kai
Wie geht man mit einem Nachnamen um, den die ganze Welt kennt? Wie ist es, das Konterfei des eigenen Vaters auf tausenden T-Shirts, Bildern und Kunstwerken zu sehen? Was bleibt von jemandem, der im Prinzip gar nicht da war?
Während des Havanna-Aufenthaltes trafen wir Aleida Guevara March, die Tochter von Ernesto „Che“ Guevara. Im Gebäude des Völkerverständigungsinstitutes von Kuba, ICAP, gab es die Möglichkeit eines einstündigen Gespräches mit ihr. Kasia und Lucie übernahmen die Übersetzung unserer Fragen und ihrer Antworten; da bis kurz vor dem Gespräch nur klar war, dass wir eines der Kinder von Che treffen werden, aber nicht welches, konnten wir nur generalisierte Fragen vorbereiten. Eine genaue Auseinandersetzung mit der Biographie Aleidas war so vorher nicht möglich. Da sie aber gesprächig und das Reden mit Gruppen gewöhnt ist, ergab sich dennoch ein informatives Gespräch zwischen der KUS-Gruppe und ihr.
Geboren im November 1960, fast ein Jahr nach der Flucht Batistas und dem Einzug der Revolutionäre in Havanna, wurde die Tochter von Aleida March, ebenfalls Revolutionärin und Mitkämpferin an der Seite der Guerillas, und Che geboren. Sie ist große Schwester dreier weiterer Kinder aus dieser Ehe und hat eine große Halbschwester aus Ches erster Ehe. Sie ist Kinderärztin und als Mitglied der kommunistischen und einzigen Partei Kubas in der Politik aktiv. Ihren Vater, gestorben 1967, hat sie nur in ihrer Kindheit kennengelernt – und dann selten, da er oft nicht zuhause war.
„Du bist die Tochter von Che Guevara? – Dafür bist du aber ganz schön dick!“ – Mit dieser Anekdote einer Frage eines Kindes an sie und einem herzlichen Lachen gleich zu Beginn des Gespräches legte Aleida den Grundstein für ein lockeres und herzliches Gespräch. Sie zeigte sich sehr offen, sympathisch, humorvoll und auch selbstironisch. Auf unsere Fragen reagierte sie mit guter Laune und gewieft, um ihre Antworten mit Geschichten und Erlebnissen anzureichern, vermutlich mit der Erfahrung aus etlichen Gesprächen dieser Art.
Spannend zu sehen war, dass der Bogen zwischen ihren persönlichen und seltenen Erinnerungen an ihren Vater und ihrer politischen Einstellung nicht weit ist: Dass er nach Hause kommt und ihr einen Gute-Nacht-Kuss gibt, erzählte sie berührend. Dass sie glaubt, dass Lateinamerika heute anders aussehen würde, wenn ihr Vater länger gelebt hätte, weil er seinen Guerilla-Krieg gegen den amerikanischen Imperialismus dann gewonnen hätte, zeigt ihre tiefe Verwurzelung im kubanischen Sozialismus. Sie lobt das kubanische Gesundheits- und Bildungssystem, schließlich ist sie selber Ärztin und hat unter anderem im staatlichen Auftrag in Angola einen längeren Auslandsaufenthalt zur medizinischen Hilfe absolviert. Mit Kritik an den heutigen Zuständen in Kuba spart sie jedoch nicht. Die Aussage, dass der jetzige Präsident in einer Reihe mit vielen andern verrückten Präsidenten stehen würde, aber sicherlich der verrückteste von allen sei, ist keine unkritische Distanz zum System. Auch die in Kürze zur Abstimmung stehende neue Verfassung wird von ihr differenziert betrachtet und in Teilen kritisiert. Es ist interessant zu beobachten, dass der Staatssozialismus von ihr gutgeheißen wird, aber nicht pauschal glorifiziert.
Die Last ihrer Verwandtschaft wird klar, als sie berichtet, dass ihr Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus empört reagieren, dass Aleida ihnen nicht berichtet hat, wer ihr Vater ist, als dies erst nach Jahren bekannt wird. Ebenso findet sie, dass die ikonische Darstellung Ches auf T-Shirts, Tassen und Wandbildern nichts mit ihrem Vater zu tun hat – er sei vielmehr der Mann gewesen, der freiwillig bei der Zuckerrohrernte geholfen habe und niemals ein nach Macht gierender oder ein Machtmensch gewesen sei. Ihre Mutter habe sie immer davor geschützt, nur auf den Namen Guevara reduziert zu werden, und ein Dasein als Tochter von Che, dem Revolutionshelden, vermieden. Dass sie Fidel Castro ihren Ersatzvater nennt, zu dem sie ihr ganzes Leben lang eine innige Beziehung gehabt habe, passt fast nicht zur Geheimhaltung ihrer Abstammung.
Die Paradoxie, nicht nur auf den Nachnamen des Vaters reduziert zu werden, zeigt sich darin, dass wir zu diesem Zeitpunkt natürlich nur mit ihr ein Gespräch führen, weil ihr Vater Che Guevara ist und heißt. An diesem Vormittag zeigt sich aber viel eher, dass gerade Aleidas offene und fröhliche Art, gepaart mit dem unbändigen Glauben an das, wofür ihr Vater eingetreten ist, eine Überzeugung zeigt, die symbolisch für das System in Kuba steht. Auch wenn sie nie aktiv erlebt hat, wie Che gehandelt und gelebt hat, fühlt sie sich seinem ideellen Erbe – ein materielles gab es übrigens nicht – verpflichtet.
Alle Aussagen offizieller Vertreter kubanischer Institutionen, die wir während unseres Landaufenthaltes hören, zeigen den Stolz darauf, ein in Lateinamerika einmaliges Sozialsystem geschaffen zu haben, das im Vergleich mit den umliegenden Staaten sehr erfolgreich ist. Hinter dieser Meinung steht Aleida ebenfalls voll und ganz. Ohne Zweifel ist im Vergleich mit vielen Nachbarstaaten die Alphabetisierung deutlich höher, die durchschnittliche Lebenserwartung sogar besser als in einigen Industrieländern, das kostenlose Gesundheitssystem Vorbild für viele Staaten. Dass den Errungenschaften der Revolution eine Menge Nachteile des kubanischen Systems gegenüber stehen, fällt hierbei unter den Tisch. Dass die Generation der Revolutionäre nun das Land einer nächsten Generation Staatslenker, die die Revolution nicht miterlebt haben, übergeben hat, bleibt auch undiskutiert.
Ebenso wie Che von vielen Klassenzimmer- und Hauswänden frisch bemalt erstrahlt und dabei die fast immer alte und bröckelnde Bausubstanz überdeckt, steht sein Heldenstatus einer kritischen Auseinandersetzung mit seinen Taten und den positiven und negativen Folgen der Revolution für die kubanische Bevölkerung im Alltag gegenüber.
Genährt vom Mythos um den Revolutionär Che sehen wir uns in Havanna einer Person gegenüber, die natürlich nur in Momenten mit ihrem Vater in Kontakt gekommen ist, aber selber authentisch, überzeugt und mit Lebensfreude von dem berichtet, schwärmt und dafür einsteht, was ihr Vater geschaffen hat.
Eine Leseempfehlung gibt sie uns zum Schluss noch mit den „Motorcycle Diaries“ auf den Weg: Sie sind Ches Berichte über seine große Lateinamerikareise zu Studienzeiten. Ebenso wie für seine Tochter sind auch für uns diese Berichte etwas, was aus erster Hand stammt und auch heute noch nahezu unverfremdet einen Zugang zu seinen Beobachtungen und Gedanken schafft – auch über fünfzig Jahre nach seinem Tod. In ihnen beschreibt er das, was den Mythos seiner Person eigentlich ausmacht: Die Idee, die Welt besser zu machen und Bevölkerungen von der Fremdbestimmung zu befreien. Seine Motorradreise war der Grundstein für seine Gedanken zur Befreiung des südamerikanischen Kontinents vom Imperialismus. Wenn etwas von Che geblieben ist, und das unterstreicht Aleida Guevara am Ende des Gesprächs mit dieser Empfehlung, dann diese Vision und der Mut, für seine Meinung und sein Weltbild einzutreten und zu kämpfen.