Datum: 08.04.2019
Autor: Martin
Auf den ersten Blick handelt es sich nur um einen grauen Metallkasten, der eher unscheinbar aussieht. Im Navigationsraum steht er auch ziemlich an den Rand gedrängt im Regal, dicht an der Wand. Das Auffälligste daran ist ein Schauglas, hinter dem ein einzelner Strich auf einer Art Millimeterpapier erkennbar ist. Ein grauer Kasten, der einen Strich auf einen Papierstreifen zeichnet und dafür übrigens auch noch eine ganze Woche braucht, wäre nun wirklich nichts Spektakuläres. Dass der unscheinbare Kasten aber mehr sein muss, lassen schon die beiden Metallschilder auf der Vorderseite ahnen. Dort steht ein Name, Dr. A. Müller (also ein promovierter grauer Kasten), und darunter steht Property of Federal Republic of Germany (also sogar ein bundeseigener grauer Kasten).
In der Tat handelt es sich um einen wertvollen Begleiter auf allen Reisen, einen Barographen. Von einigen Steuerleuten wird er, durchaus liebevoll, „Graf Baro“ genannt, weil er nicht nur den Luftdruck misst (wie ein gewöhnliches Barometer, das sich ebenfalls an Bord der „Thor Heyerdahl“ befindet und das auch eine Leihgabe des Deutschen Wetterdienstes ist), sondern gleichzeitig auch Luftdruckveränderungen aufzeichnet. Adel verpflichtet eben.
Das Innenleben des Barographen besteht aus einer federgetriebenen Trommel, deren Feder wöchentlich aufgezogen werden muss, aus einem Stift an einem filigranen Arm, und aus einem geschlossenen Luftbehälter. Auf der Trommel, die in sieben Tagen nur eine einzige Umdrehung vollendet, ist ein Papierstreifen befestigt, so dass der darauf aufliegende Stift den Streifen im Laufe einer Woche von links nach rechts mit einem Strich versieht. Tatsächlich könnte man die Drehgeschwindigkeit des Zylinders sogar etwas verlangsamen oder beschleunigen, wenn er etwas weniger oder etwas mehr Zeit als genau eine Woche für eine Umdrehung benötigte.
Steigt der Luftdruck außerhalb des Geräts, wird dadurch der Luftbehälter etwas flacher gedrückt – die Luftmenge darin ändert sich ja nicht. Dadurch wird der filigrane Arm so bewegt, dass der Stift auf dem Papier leicht nach oben wandert. Da sich die Trommel mit dem Papierstreifen unaufhörlich, wenn auch langsam dreht, wird steigender Luftdruck daher durch eine leicht ansteigende Linie gekennzeichnet, sinkender Druck umgekehrt durch eine fallende Linie. Die Luftdruckveränderungen sind dabei auf einen Blick zu erkennen. Daher geht in der Regel auch der erste Blick der Steuerleute beim Wachantritt zum Barographen, und über den Tag verteilt folgen noch einige mehr.
Luftdruckveränderungen sind fast immer mit Wind verbunden, größere Änderungen mit mehr Wind – und dass die Crew und das Schiff darauf vorbereitet werden können, gehört zu den Aufgaben der Steuerleute.
Die beschrifteten Papierstreifen, ergänzt durch Uhrzeit und Position des Schiffs zum Start- und Endzeitpunkt der Aufzeichnung, werden übrigens am Ende der Reise an den Deutschen Wetterdienst zur Auswertung zurückgegeben. Sie sind die Basis für die stetig weiter entwickelten Rechenmodelle der Wetterdienste, mit denen aus Messwerten zahlreicher Stationen Vorhersagen abgeleitet werden.
Es gibt einen weiteren Grund, warum der Kasten den Spitznamen „Graf Baro“ hat. Wie viele Adlige ist er ziemlich empfindlich und nimmt regelmäßig die Dienste eines Kammerdieners in Anspruch. Einmal in jeder Woche, in der Regel montags morgens, wird der Barograph vorsichtig aus dem Regal gehoben. Der Kasten muss geöffnet, der Papierstreifen entnommen, ein neuer beschriftet und eingelegt sowie die Feder aufgezogen werden. Dann wird der Kasten wieder sorgfältig in sein Regalbrett gestellt und zeigt dort durch sein konstantes Ticken an, dass er seine Aufgabe erfüllt. Die wöchentliche Pflege des Grafen, also die Tätigkeit des Kammerdieners, ist dafür die Aufgabe der Steuerleute.
Adel verpflichtet eben. Auch andere.