Datum: Mittwoch, der 13.04.2016
Mittagsposition: Falmouth
Etmal: 93 sm
Wetter: Lufttemperatur: 11° C, Wassertemperatur: 11,5°C, Wind: SW2
Autor: Thomas
Der Bartender zieht ein paar Mal am Zapfhebel und füllt mit schaumigem Zischen mein Glas. Er dürfte etwas jünger als ich sein, hat lange spröde Haare und einen Dreitagebart, trägt ein Holzfällerhemd. Backsteinwand, alte Kinositze aus den 60ern, an der Theke zupft ein Mädchen leise Gitarre. Ich nehme mein schaumloses Ale – „Cheers!“ – und kehre zurück zu meinem Platz auf dem breiten Sims am Fenster. Draußen britisches Wetter und zwei junge Typen in schwarzen skinny fit Jeans, mir gegenüber der Eingang zur Bücherhalle. Ich habe Blick auf die Kategorie „Thought“.
Zurück in Falmouth. Oder noch da. Es fällt mir nicht schwer, in den Gedanken abzutauchen, wir wären nie von hier fortgesegelt; mir vorzustellen die Bilder, die ich im Kopf habe, von einer kompletten Reise, seien nur der Nachhall eines Traums. Eher wirkt es unwirklich, dass es Erinnerungen sein sollen, weil so wenig davon geblieben ist. Ich kann es zwar mit meinem Verstand erfassen, weiß, was wir alles erlebt haben – es ist alles da – aber greifen kann ich es noch immer nicht. Wir haben auf einem verdammten Segelschiff den verdammten Atlantik überquert. Zwei Mal sogar. Aber selbst hunderte Meilen Wasser in alle Richtungen, Treiben mitten in blauem Nichts – ein Eindruck den ich mir vorher als unvorstellbar eindringlich ausmalte – haben nicht ausgereicht, sich ihren Weg zu bahnen in die Gegenwärtigkeit. So unvorstellbar es für mich damals in Falmouth war, war es auch mitten auf diesem Ozean und ist es noch. Aber passiert muss es wohl sein. Meine Haare sind lang geworden und mein Tagebuch ist vollgekritzelt:
>> Ein Schatten steht an meiner Koje, „… du hast in 30 Minuten Wache …“. Und ich sammle mit geübten Griffen in der Dunkelheit meine Klamotten und Ausrüstung zusammen. Ich kämpfe mich in meine Hose und den Niedergang hinauf – Boden, Wände, alles bewegt sich, wir leben in einem Bezugssystem ohne Konstanten. Ist halt so. „Goode Wacht!“ – „Goode Ruh‘!“ Unter mir funkeln kleine Organismen in der Furche, die der Rumpf durch die schwarze See zieht. Darüber die Sterne, bis die aufgehende Sonne sie nach Westen wischt und die Farben zurückbringt. Anderweltlich gleiten fliegende Fische über die Wellen. Ist halt so. Unsere ganze Welt ist rot und 50 mal 6 Meter groß, unser Vorgarten wandelt sich ständig und reicht bis zum Horizont. Ihn zu betreten wäre unangenehm bis tödlich. Auch das ist halt so.
Unablässig strömen neue Eindrücke, vermischten sich zu einem undurchdringlichen Dunst mit denjenigen, die sich niemals setzen konnten solange der Mahlstein des Schiffslebens malmt. Wir wachen und ruhn‘, machen und tun, lachen und weinen. Und ich freue mich über alles, was sich nicht anfühlt, als wäre es halt so. <<
Rar waren die Momente, in denen man reflektieren konnte, was gerade eigentlich passierte und die Momente, in denen man es einfach erleben konnte. Und jetzt, wo alles funktioniert, endlich etwas wie Routine eingekehrt ist, alles sich eingespielt hat, alles von alleine läuft, jetzt, wo sich Momente der Ruhe auftun würden, man anfangen könnte, die Reise wirklich wahrzunehmen, zu genießen, kleine Dinge zu finden am Schiff und an den Menschen, mit denen man doch seit schon 170 Tagen zusammen arbeitet und lebt und alles teilt, jetzt soll es zu Ende gehen? Laufen alle Vorbereitungen dafür?
Irgendwo zwischen „Ich müsste doch noch …“ und „Jetzt ist‘s auch egal.“ bin ich ganz gelähmt bei dem Gedanken, was ich noch alles hatte tun wollen. Ich habe nicht einmal alle Gebetsfahnen durchgelesen, die unser Wohnzimmer schmücken, nicht alle Mastgeheimnisse erforscht, kenne immer noch nur die vier meistgebrauchten Knoten, habe neulich erst herausgefunden, wo der Lichtschalter in der Last ist. Wir haben so viel noch nicht gesehen und entdeckt, über so viel nicht gesprochen, so viele Scherze nicht gemacht, so viele Gedanken nicht gedacht. Und wo doch noch so viele erste Male warten, ist plötzlich alles voller letzter. Einige sind ganz unbemerkt vorübergegangen, wie der letzte Sprung von der Klüverbaumnock, manche waren mir wehmütig bewusst, wie die letzte Unterrichtsstunde. Sie werden zahlreicher werden, alles umfassen, was hier die letzten sechs Monate normal für uns war, und schließlich gipfeln im letzten Mal Segel packen, letzten Mal Wache und letzten Mal … zusammen.
Wir werden von Bord gehen und dann jeder seiner Wege. Wir werden uns versprechen, dass wir immer in Kontakt bleiben werden. Werden einander schrieben, werden telefonieren und facebook-likes verteilen. Wir werden einander erzählen, wie es ist, wieder zu Hause zu sein, wie sehr wir uns vermissen und viele Sätze beginnen mit „Wisst ihr noch …“. Wir werden uns gegenseitig helfen zu verarbeiten und uns stützen, wenn wir in diese Welt zurückkommen, die uns fremd geworden ist; in der so viel Wissen, das hier unentbehrlich ist, auf einmal nutzlos sein wird. Tampen werden wieder Seile heißen und Spanngummis Einkäufe auf dem Gepäckträger fixieren und nicht Kisten oder Töpfe vor Neptuns Zorn bewahren.
Langsam werden wir zurückkehren ins neue alte Umfeld, werden merken, dass sich die Gespräche ändern und wir eigentlich nicht mehr denjenigen vor uns haben, den wir auf der Reise kennen gelernt haben. Werden merken, dass auch wir nicht mehr der gleiche Mensch sind. Die Anrufe und Nachrichten werden seltener werden, bei manchen ganz abebben. Und viele von uns werden einander nur noch in überraschenden Momenten als Schatten der Vergangenheit durch die Köpfe spuken.
So ist das eben, C’est la vie. Das ist nichts Unerhörtes oder Neues, alles endet nun einmal. Was war und ist und ewig bleibt / ist einzig die Vergänglichkeit. Ich kann uns nur allen wünschen, dass wir hinnehmen können, dass Dinge und Menschen kommen und gehen, sich unser Umfeld und wir selbst uns ständig wandeln wie die sturmgeplagte See und dass unser aller Gedächtnis weit und tief genug reicht, damit aus all unseren gemeinsamen Erlebnissen und Erfahrungen irgendwann schließlich reiche Erinnerungen werden.
Die Holztreppen knarzen, als ich sie hinuntersteige. Feine Tröpfchen benetzen mir Wangen und Stirn. Ich werfe mir meine Regenjacke über und biege ab Richtung Pier. Es geht nach Hause. Was auch immer das bedeuten soll …