Datum: Mittwoch, der 08.03.2016
Mittagsposition: 32° 22,7′ N; 064° 40,8′ W
Etmal: 0 sm
Wetter: Lufttemperatur: 20° C, Wassertemperatur: 21°C, Wind: NNE 2
AutorIn: Linn
„Guten Morgen Linn, es ist halb zwei und du hast JETZT Wache!“
„Mmmh“
„Bist du auch wirklich wach?!“
„Ja! Äh klar, ok gääähn, komme.“
Das war wohl nicht das erste Mal, dass ich heute geweckt wurde, denn als ich fünf Minuten später in Schlafanzug und Pulli auf dem Achterdeck stand und fragte, warum ich so spät geweckt wurde, brach Gelächter aus und Jonas erklärte mir, dass ich wohl erst beim vierten Mal Wecken aufgestanden sei und die anderen wortwörtlich überschlafen habe. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern und war froh, dass Pia mich bis zum ersehnten Ende unserer Wache wach hielt.
Das fünfte Mal Wecken war, mit Aussicht aufs Frühstück, dann schon erfolgreicher. Den Umständen auf der Thor entsprechend, machte ich mich fertig und tauchte in das morgendliche Getümmel, Geklapper und Gelächter in der Messe ein.
Beim Frühstück gibt es zwei Typen von Tischgenossen: Die einen schleppen sich vom Bett in die Messe, kauen stumm auf ihrem Obstsalat herum und sind erst mindestens eine halbe Stunde später ansprechbar, während die anderen nach dem Wecken regelrecht aufspringen und auf der Stelle anfangen den alltäglichen Lautstärkepegel auf der Thor im Alleingang aufrecht zu erhalten. Je nach Stimmung kann man sich einer Gruppe anschließen, verlässt die Messe aber in jedem Fall wacher als zuvor, was auch gut so ist.
Meine Wache erwartete sogleich das Highlight des Tages: Reinschiff Sanitär!!! Aber spätestens nach einigen einschneidenden Toilettenabenteuern auf Kuba, putzen wir alle unsere Klos mit geradezu verstörender Begeisterung und Hingabe und auch unser Leben mit Schmieri hat den Hygienemaßnahmen neuen Elan gegeben. Hoch leben Chlorox und Nasenklammern! Zudem wurde das ganze durch Detlefs Ankündigung: „Erst wenn der Schiffsrat mit allen Stationen zufrieden ist, gibt es Landgang, also springt wie die Eichhörnchen!“ angespornt. Ich polierte noch schnell den letzten Wasserhahn, bis Sonja sich darin hätte spiegeln können und wartete dann auf das alles entscheidende Urteil. Als Uri endlich verkündete, dass der Landgang freigegeben sei, kam mit einem Schlag Leben in die Schüler:
„Wo ist mein linker Schuh?“
„Hat noch jemand Kopfhörer?“ „Geht noch wer mit zum Supermarkt?“
„Kannst du mir Geld leihen?“
Hä, wer hat meine Jacke?“ „Wo ist das Landgangsbuch?“
„Wann müssen wir eigentlich wieder da sein?“
…
Und schon flutete eine Horde Öljacken-Teenies die Straßen, Läden und Internetplätze, während die Thor ohne Kusis da lag, wie ein Geisterschiff und ein wenig den Eindruck erweckte, als sei sie ein ganz normaler, friedlicher Traditionssegler. An Land startete heute nämlich der Endspurt im Pullikaufen, über Skype Verabschieden und Verproviantieren für den Nordatlantik. Bei unglaublich hohen Preisen wurde fieberhaft überlegt zwischen Kakao, Schoki, Gummibären und anderen Köstlichkeiten, die uns seit Grenada fast nur noch in unseren Träumen begegnet waren. Manchen fiel die Entscheidung anscheinend doch ziemlich schwer und als die Backschaft schon zum Essen läutete, kamen noch hektisch ein paar gelbe Kapuzen angesprintet. Spaghetti mit Bolognese- oder Tomatensauce wollte sich dann doch keiner entgehen lassen, zumal man sich ein Mittagessen auf den Bermudas kaum leisten kann. Veronika, die schon eifrig Seekrankheitstropfen (an Bord genannt: ‚Die Drogen‘) austeilte, gab noch schnell den Hinweis, dass es sich lohne, alles für einen eventuellen ‚zweiten Verzehr‘ des Ganzen bei später einsetzendem Seegang, gründlich durchzukauen. Aber wir zeigen ja alle gerne ‚was in uns steckt‘ und ließen uns das Essen nicht verderben. Im Anschluss stellte Detlef noch einmal genau das Wetter der nächsten Tage und das Ablegemanöver vor, das zwar ähnlich wie im Film mit: „Leinen los, wir hissen die Segel und nehmen Kurs auf die Azoren!“ abläuft, aber mit deutlich mehr Aufwand verbunden ist, als man so denken mag. Gestärkt und schon voller Vorfreude auf die Etappe spielten wir noch einmal Signal-K und Generalalarm durch und brachen auf. An der Pier konnte man sehen, wo wir uns mit Anker und ‚Kus 15/16‘ verewigt hatten und wir bestaunten noch ein letztes Mal das wunderschöne türkise Wasser, bis uns weiter draußen, wo wir nur noch die weißen Dächer der Häuser sehen konnte, eine schöne Brise und ein paar ordentliche Wellen, die schon bald ihre ersten Opfer forderten, erwischten.
Das Abendessen wurde von der krankheitsbedingt halben Backschaft provisorisch nur für 2/3 der Besatzung vorbereitet und als ich beim Aufbacken aushalf, gingen mir vor lauter Seegang gleich ein paar Teller zu Bruch. Also versuchte ich, heftig hin und her geschmissen, das Monstrum von Staubsauger aus der Last zu zerren und in die Messe zu buxieren, um den Scherben, die das Schwanken inzwischen großzügig über den ganzen Messeboden verteilt hatte, auf allen Vieren hinterherzujagen. Als ich auch in den letzten Winkel gekrochen und um einiges reicher an blauen Flecken geworden war, ging das ganze Spiel wieder zurück in die Last. Inzwischen war sogar mir zu schlecht geworden, um zu Abend zu essen. Es war sowieso nur ein kläglicher Rest erschienen, während zwischendurch immer wieder geknickte Gestalten mit gefüllten Tüten vorbei torkelten oder hektisch nach oben sprinteten. Ich putzte also noch schnell meine Zähne und versuchte, mich so in meine Koje einzubauen, dass mich der Weckdienst am nächsten Morgen nicht grün und blau auf dem Boden meiner Kammer wiederfinden musste.
Herzlich Willkommen auf dem Nordatlantik!
Liebe Omi,
Scherben sollen ja Glück bringen und das wünsche ich dir von ganzem Herzen zu deinem Geburtstag. Es ist so schön wie liebevoll du immer für jeden von uns da bist und uns alle hegst, pflegst und verwöhnst wann immer es auch geht. Bitte bleibe so gesund und fröhlich wie immer und lass es dir immer gut gehen. Ich freue mich schon wahnsinnig wieder mit euch an die Ostsee zu fahren und einfach bei euch zu sein.
Stürmische Grüße vom Nordatlantik, eure Linn