Für immer bunteste Zeiten

schueler.marlenaDatum: Dienstag, 26.4.2014 (Drei Tage nach Ankunft in Kiel)
Position: Salzburg, Österreich
Wetter: kalt, Schneefall und Sonne abwechselnd
Autorin: Marlena

Um halb 10 werde ich von selbst wach und stelle mal wieder fest, was für ein Privileg das Ausschlafen ist. Genau deshalb waren die Wachen 1 und 2 wahrscheinlich meine Lieblingswachen, mit dem Unterschied, dass ich jetzt nicht mehr nachts drei Stunden frierend in der Kälte stehe und freiwillig die Maschinenronde gehe, um meine Füße wieder aufzutauen. Während ich allein Zähne putzend im Bad stehe, erinnere ich mich daran, wie wir morgens auf dem Atlantik immer an Deck in der Sonne unsere Beißerchen poliert haben. Ich mache ein paar Schritte in die Küche, wo eine volle Schüssel Naturjoghurt mit Himbeeren auf mich wartet. Ein Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht, wenn ich daran denke, wie wir täglich heimlich Zutaten wie Milch, Müsli, Cornflakes und Joghurt tauschten, um mehr von dem zu haben, was wir mochten. Die nächste Herausforderung steht an: Zieh ich eine Bluse an, meine Lieblingsjacke oder einen dünnen Sweater? Ich stehe ratlos vor meinem Kleiderschrank. So eine große Auswahl, alles Sommersachen, viel zu kalt. Ach egal, mit der Skiunterwäsche darunter wird es schon warm genug sein. In meinem Kopf rattert es ein bisschen bis mir klar wird, dass in der normalen Welt niemand einfach so Skiunterwäsche im Alltag trägt. Schade, muss wohl doch der kuschelige Kapuzenpulli von den Bermudas herhalten. Wir hatten uns so auf die Teile gestürzt und sie davor behütet, in der Waschmaschine zu landen, weil wir sie ohne Verfärbung mit nachhause nehmen wollten.
Als ich mit Kopfhörern im Bus in die Altstadt sitze und in der Musik-Mediathek auf „zufällig“ drücke, ertönt Intoxicated von Martin Solveig und prompt sehe ich in Gedanken schon wieder unsere Performance für den Galaabend bei der Friedrich-Engels-Schule in Kuba. Wie wir das Ding gerockt und die kubanischen Schüler mit Discofox, Schuhplattln und Shuffeln beeindruckt haben! Bei einem Latte Macchiato sitze ich in meinem Lieblingscafé, lese den Brief an mich selbst, den ich vor meiner Abreise geschrieben hatte und blättere in meinem Tagebuch. Es ist unfassbar, wie viel in den letzten Monaten geschehen ist. Das Grinsen kehrt zurück, als ich mich an tausende lustige Sprüche, Aktionen und Insider erinnere. Ach, was haben wir in diesen bunten Zeiten gemeinsam gelacht und gefeiert, aber auch gemeinsam geweint und gelitten (wenn auch deutlich weniger, als Ersteres). So richtig glauben, dass das alles wirklich passiert ist, kann ich immer noch nicht. Nur mehr als 12.000 Fotos, die niedergeschriebenen Gedanken zu den Erlebnissen in meinem Tagebuch und das ein oder andere gekaufte Souvenir erinnern mich daran sowie natürlich KUSis, denen es ähnlich geht, die mich aber mit „Hey, weißt du noch, als wir…“-Fragen, wahrscheinlich sogar unbewusst, auf den Boden der Tatsachen zurückholen: Es war kein Traum!
Als ich meine Sachen packe, um das Café zu verlassen, kommt eine Kellnerin und wischt den Tisch mit einem gelben Lappen ab. Plötzlich fällt mir das Thor’sche Farb-Putz-System ein, in dem jeder Bereich seine zugeordnete Farbe hatte. Das gab Ärger, wenn sich ein gelber Lappen, der in die Kombüse gehört, zwischen Rot (Sanitär) oder Grün (Wände und Oberflächen) verirrt hatte! Auf dem Weg nach Hause gehe ich an einer Gruppe Jugendlicher vorbei, die alle die gleiche Jacke tragend und laut über eine Sehenswürdigkeit diskutieren. Ich lächle bei dem Gedanken, wie wir mit unseren dunkelblauen KUS-Jacken in kleinen Städten wie St. George’s oder Horta total aufgefallen sind. „Oh, you are from the big sailing ship?“ – der Standardsatz. Egal, wo wir hinkamen, die meisten Leute hatten zumindest schon von uns gehört. Als ich mich zuhause mit einer Tasse Rooibos-Vanille, dem vermutlich beliebtesten Tee auf der Thor, den einige in ihren Kojen bunkerten, an meinen Schreibtisch setze, um diesen Text zu tippen, habe ich die ganze Zeit Angst, dass der Seegang sie über meinen Laptop schütten könnte. Wie man an diesem Text vielleicht bemerkt, erinnern mich unglaublich viele Dinge in meinem Alltag an die KUSis, an die Thor, an unseren Bordalltag, an unsere Landaufenthalte und die unbeschreiblichen Abenteuer, die wir dort erlebt haben. Werden mir solche Dinge in ein paar Wochen immer noch auffallen?
Auch wenn ich mich wieder ein wenig eingelebt habe, sind Teile meines Herzens noch auf der Thor und bei den anderen, in ganz Deutschland verteilt. Dass ein Zuhause für mich nicht mehr nur ein Ort, sondern auch Menschen sein können, habe ich schon vor Längerem festgestellt. Mein Zuhause ist Salzburg, hier sind meine Familie und meine FreundInnen. Mein Zuhause ist aber auch die Thor, samt KUSis, Lehrern und Stammbesatzung. Und mein Zuhause ist die Welt, so wie ich sie in den letzten sechs Monaten bereist habe und darum waren Orte wie der Regenwald oder ein Hotelzimmer in Havanna auch mein Zuhause, solange die anderen dabei waren. Mit der Zeit werde ich mich wahrscheinlich wieder an mein Zimmer, an mein überdimensional großes Bett, mein Leben hier gewöhnen, nur eine Sache möchte ich nicht akzeptieren: Das Alleinsein. Die Stille. Niemand der laut lacht, Sprüche und Witze reißt oder keine Musik, die entweder aus dem Kombüsen-iPod bis runter zu den Kammern dringt oder von einer Gruppe stammt, die sich mit einer Gitarre und Liederbüchern in der Messe versammelt hat. Für mich als Einzelkind ist es besonders schwer mit diesem Wechsel umzugehen. Aber was hat man als KUSi noch gelernt? Wenn dir etwas nicht passt, musst du entweder damit leben oder etwas verändern. Das Ticket für den Zug, der mich morgen zu Lukas und Vinzent nach Oberbayern bringt, liegt auf jeden Fall bereit.

(Titel aus „Wir sind groß“ von Mark Forster)

 

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