Aus der Sicht einer Schildkröte

schueler-cosima-kopieDatum: Freitag, der 09.12.2016
Mittagsposition: 12° 38,3′ N; 061° 21,8′ W
Etmal: 7 sm
Wetter: Lufttemperatur: 28,5° C, Wassertemperatur: 28,5°C, Wind: E3-4
AutorIn: Cosima

Ich habe ja schon einiges in meinem Leben gesehen, aber so etwas ist mir bisher noch nie untergekommen. Als ich gestern gemächlich durch das türkise Wasser der karibischen See paddelte, bemerkte ich, wie sich plötzlich ein gigantischer Schatten über mir bewegte. Verärgert ruderte ich schnell an die Oberfläche, um zu sehen, welcher Koloss es wagt, meinen mittäglichen Imbiss zu stören – das Leben als Schildkröte wird wirklich immer stressiger – und konnte meinen Augen nicht trauen: Vor mir lag ein wunderschöner Dreimaster, der trotz seiner geschätzten 50m Länge eine für seine Größe sehr beeindruckende Eleganz ausstrahlte.
Der schwarze Anstrich mit dem roten Streifen und der schlanke Bug, an dessen Seiten sich das glitzernde Wasser brach, sowie ein hölzerner Klüverbaum verliehen dem Schiff ein majestätisches Auftreten. Die drei Masten, die hoch in den Himmel aufragten und mit zahlreichen Segeln bestückt waren, gaben ihm ein piratenhaftes Aussehen, was dieses Boot noch etwas geheimnisvoller erscheinen ließ. Bitte verzeiht mir meine kitschigen Ausschweifungen, aber bei den kleinen missglückten Katamaranen, die hier sonst vor der Küste liegen, versetzt einen so ein Traditionssegler doch in einen euphorischen Zustand. Allerdings passierte dann nach der Ankunft des Seglers nicht mehr viel, weshalb ich beschloss, mich ein wenig hinzulegen – auch Schildkröten brauchen schließlich ihren Schlaf – und den nächsten Tag abzuwarten.

Ich werde unsanft durch ein lautes Platschen geweckt, dessen Herkunft sich bei einem Blick nach oben leicht identifizieren lässt – Schnorchler! Ich bin zwar wirklich eine sehr geduldige Schildkröte, aber was zu viel ist, ist zu viel. Diese Schnochler mit ihren überdimensional großen Füßen und den riesigen Brillen, mit denen sie uns neugierig angaffen, fallen definitiv unter diese Kategorie.
Trotzdem ist meine Neugier geweckt und als sie in zwei kleine schwarze Dinghis steigen (obwohl steigen wohl etwas zu elegant klingt; wie ein Walross reinrobben trifft es eher), schwimme ich ihnen schnell hinterher und beobachte sie, während sie am Riff fasziniert die kleinen Haie, bunten Fische und Rochen bestaunen und dabei verzweifelt versuchen, nicht all zu viel Wasser zu schlucken, während sie gegen die Strömung ankämpfen.
Danach fahren sie mit ihren Schlauchbooten zu mir nach Hause, zu unserer Sandinsel und den anderen Schildkröten. Verständlicherweise gefällt ihnen dieser Trip besonders gut – so schöne und gleichzeitig süße Tiere wie mich sieht man schließlich nicht alle Tage. Anschließend kehren sie wieder zum Schiff zurück, wobei ich bemerke, dass sie sich nach ihrem Riffausflug mit einer etwas kleineren Gruppe ablösen, die wohl von mir unbemerkt mit länglichen Plastikkajaks an den Strand der kleinen Felsinsel gelangt ist. Nachdem sich am Nachmittag das Programmwechsel-Prozedere wiederholt, wird es mir langsam zu langweilig und auch zu anstrengend, diesem ständigen Positionswechsel zu folgen – ich bin schließlich eine Schildkröte und kein Rennpferd.
Ich ziehe mich zurück. Mal sehen, welche Überraschung mich am nächsten Tag erwartet, mit den über das ganze Schiff gespannten Sonnensegeln sieht das Schiff nicht so aus, als würden sie gleich wieder ablegen.

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