Die Ruhe vor dem Sturm

Robin

Datum: 05.04.2019
Mittagsposition: 44°41,1‘ N ; 020°22,8‘ W
Etmal: 129 sm
Wetter: Lufttemperatur: 10°C , Wassertemperatur: 13°C , Wind: N 7
Autor: Robin

Ich sitze in der Bibliothek im Mittschiffsbereich der Thor Heyerdahl. Es ist halb vier und ich habe Additum. Aber ich kann mich nicht richtig auf „reduzierende Zucker“ konzentrieren, denn in meinem Kopf schwirren Gedanken an Johannes‘ Ansage bei Kaffee und Kuchen herum. Ein Sturm erwartet uns. Das Wetter war in den letzten Tage schon schwierig. Wir mussten zwischenzeitlich sogar wieder Richtung Westen fahren. Jetzt kam endlich der erhoffte Winddreher: Wir konnten abfallen und fahren wieder nach Nord-Osten – in Erwartung des Sturms.

Wir machen das Schiff dicht, Schlagklappen in den Oberlichtern zu und Deckshausschotts schließen. Zusätzlich werden auch die Oberlichter des Salons und der Kombüse verschlossen.

Okay, ich sollte jetzt wirklich weiter Chemie lernen. Noch einmal Aufgucken und tief durchatmen. Da rücken alle Bücher im Regal gegenüber auf einmal von mir weg, tiefer ins Regal hinein. Es geht los!

Acht Windstärken, in Böen neun bis zehn. Fünf Meter hohe Wellen. Gischt spritzt übers Achterdeck. Das Hauptdeck ist quasi dauerhaft überspült von großen Brechern. Die Sicherheitsnetze blähen sich im Wind. Das Meer auf Steuerbord besteht aus riesigen, hell beleuchteten Wellen. An Backbord ist es dunkel und es wirkt etwas bedrohlich, wenn eine Welle anrollt.

Bei meiner ersten Sturmwache gucke ich ins Wetterbuch und sehe bei der Wassertemperatur seit mehreren Stunden einen Strich. Die Gefahr, nass zu werden, scheint allen die Mühe, aufs Hauptdeck zu gehen, nicht wert zu sein. Gurtpflicht bekommt jetzt einen ganz anderen Stellenwert, wenn man sonst beim Bergen des Großsegels von einer Welle mitgespült werden würde.

Besonders bei solchen Bedingungen ist Sicherheit in allen Bereichen wichtig. Der Seegang, unser ständiger Begleiter, ist momentan sehr unausgewogen. Unerbittlich schwankt die Thor von Steuerbord nach Backbord nach Steuerbord nach Backbord. Alle laufen durch die Gänge unter Deck, als wären sie betrunken. An Deck ist nur die Fahrwache und der Wind. Trotz des Sturms läuft überall mehr oder weniger der normale Alltag ab.

Er ist an Bord komplett auf den Seegang angepasst. Alles ist mit den kreativsten Vorrichtungen gesichert. Die Bücher in der Bibliothek zum Beispiel mit einer Querstange aus Holz in jedem Fach. Manche Bordmitglieder werden erneut seekrank, doch alle werden psychisch belastet vom ganzen Hin und Her. Das wird richtig deutlich, wenn man in die Kombüse guckt: Viele Gefahren- und Geräuschquellen auf einem Fleck strengen über den Tag immer mehr an.

Und wenn ich denke: Jetzt ist auch mal gut, noch eine Welle, dann kippe ich mit allem, was ich gerade trage, um. Direkt kommt die nächste Welle. Dem Meer ist es egal, wie es einem geht. Es macht einfach weiter. Es zeigt seine Unerbittlichkeit und Macht. Ob wir Menschen uns jetzt entscheiden, uns in einen Sturm aufs Meer zu begeben, oder nicht. Das Meer macht, was es will.

Und doch. Die aktuelle Wetterlage ist allgemein schon sehr ungewöhnlich. Laut Kapitän Johannes ist das schon eine Auswirkung des voranschreitenden Klimawandels. Hochdrucklagen so weit nördlich haben uns auf der Hinreise nach Teneriffa guten Rückenwind beschert, jetzt also entsprechenden Gegenwind.

Doch gerade scheinen der Wind und das Meer uns wieder wohler gesinnt zu sein. Es flaut ab, der Wind kommt etwas räumlicher und die Schiffsbewegung lässt langsam nach.

Ich sitze wieder in der Bibliothek, diesmal an diesem Blog. Ich muss viel weniger mit dem Oberkörper ausgleichen als vor zwei Tagen. Vielleicht kann ich mich dieses Mal besser auf den Schulstoff von Zuhause konzentrieren.

P.S.: Papa, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

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