35 Objekte: Der Klettergurt – „Safety first!“

Anna

Datum: 08.04.2019
Autorin: Anna

„So, und jetzt brauchen wir zwei oder drei Personen, die ihren Gurt holen“. Wie oft kam diese Ansage schon von einem Wachführer? Auf jeden Fall so oft, dass jeder die Möglichkeit bekommt, eine von diesen Personen zu sein, die sich dann auf den Weg ins Rigg machen dürfen, um dort Sachen zu erledigen, zum Beispiel Segel entzeisern, einzeisern oder packen, Reparaturen vornehmen oder den Hals des Toppsegels umtragen. Für die Sicherheit unverzichtbar sind die Gurte, von denen jeder am Anfang der Reise einen zugeteilt bekommen hat. Somit sind Gurte der Gegenstand, den man am häufigsten auf einem Rundgang durch die Thor sieht. Sie hängen an fast jedem Haken neben dem ebenfalls unverzichtbaren Ölzeug.

Wenn ein Laie ein Exemplar vor sich liegen hat, mag das am Anfang recht verwirrend sein. So besitzen die Gurte viele Schlaufen und man muss erst mal herausfinden, in welche jetzt die Beine, in welche die Arme und in welche die Hüfte hinein sollen.

Angezogen ist es schon viel klarer. Von oben nach unten sieht man zuerst zwei Bänder, die über den Schultern verlaufen. Sie treffen sich auf Hüfthöhe in einer Schlaufe, an der ebenfalls der Gurt, der die Hüfte umschließt, befestigt ist. Auf der Rückseite enden sie in den Beinschlaufen und haben eine Zwischennaht am Hüftgurt. An der Vorderseite befindet sich ein Haken, an dem zwei Sicherungen befestigt sind. Der eine ist ein Falldämpfer, an dem sich zwei Karabiner befinden, die abwechselnd höher gehängt werden, sodass man sich sicher fortbewegen kann und z. B. niemals ungesichert auf einer Rah steht. Eigentlich kann man es als ein simples Klettersteigset bezeichnen.

Die zweite Sicherung ist schon spezieller, es handelt sich um eine Arbeitssicherung. Das ist ein Karabiner, der durch ein unflexibeles Seil am Gurt befestigt ist. Dieser ist dafür gedacht, dass man einen sicheren Stand hat, wenn man länger an einem Ort im Rigg arbeitet, z. B. beim Segelpacken. Unterhalb dieser zwei Sicherungen befindet sich ein Karabiner, der die Hüftschlaufe mit den Beinschlaufen verbindet. Am Hüftgurt sind außerdem noch Schlaufen angebracht, an denen man Dinge, wie beispielsweise Zeiser oder einen Takelsack, befestigen kann.

Ein Experte, wenn es um die Pflege und Wartung der Gurte geht, ist unser Sicherheitsbeauftragter David. „In jedem Hafen müssen alle Gurte einmal in einem Süßwasserbad gespült werden, um das ganze Salz zu entfernen. Dann werden sie zum Trocknen aufgehängt, wenn möglich nicht in der Sonne, weil ihnen das UV-Licht nicht gut tut. Am Schluss werden noch einmal alle Metallteile gefettet, um ihnen einen Schutz zu geben und damit sie so funktionieren, wie sie sollen.“

Man sieht, dass das für ca. 40 Gurte nicht wenig Arbeit ist, aber es lohnt sich: bei guter Pflege halten die Gurte gute fünf Jahre – und das bei den widrigen Umständen mit Salzwasser und intensiver Sonneneinstrahlung. Doch es gibt auch Situationen, in denen Gurte auf dem Achterdeck vergessen werden, besonders nach Aktionen, bei denen viele Personen mit ihren Gurten im Rigg waren. In so einem Fall werden die vergessenen Arbeitsgegenstände eingesammelt und gegen Schiffsarbeiten oder Schokolade ausgelöst.

Die Gurte stehen symbolisch für die Arbeit, die es im Rigg zu erledigen gibt. Und das sind tatsächlich eine Menge, auch neben dem Segel packen, festzeisern oder auspacken. So mussten auf der ersten Atlantiküberquerung die Wanten neu geteert werden, regelmäßig braucht das Leder neues Fett und Tampen müssen ausgetauscht werden. Natürlich gibt es auch den Fall, dass Segel reißen, aber Segel mit Rissen können nicht gesetzt werden, ohne sie noch weiter zu beschädigen. Ein Segelschiff wie die Thor ist aber sinnlos ohne seine Segel. Das Schiff braucht sie zur Fortbewegung und keiner kann sich das Zuhause „Thor“ ohne die Takelage vorstellen.

Die Erfahrungen, die die Kusis und eigentlich alle Bewohner und Gäste des Schiffes gemacht haben, hängen so sehr mit diesem Segelschiff, genauso wie es ist, zusammen und sie wären so anders, wenn die Thor ein reines Motorschiff wäre. Nicht nur anders, sondern auch weniger reichhaltig!

Deshalb müssen auch diese Reparaturen getätigt werden. Mittlerweile gibt es auch schon eine Menge an KUSis, die diese Aufgaben selbstständig erledigen können. Teilweise wird das im Bootsmannspraktikum oder am Schiffsarbeitentag an Land, teilweise aber auch in der Freizeit gemacht. Viele Dinge, die sehr zeit- und arbeitsaufwendig im Rigg erledigt werden, kommen aber nicht so an Deck an. Man sieht zwar, wie Laurent, unser Bootsmann, mit einem voll beladenen Takelsack aufentert und wieder herunterkommt, aber die verrichtete Arbeit entzieht sich oft den Augen an Deck.

Vielleicht erreicht dieser Text ja, dass man einen Blick nach oben ins Rigg wirft und die Gurte in dem Umfeld sieht, für das sie an Bord da sind – nicht nur an den Ölzeughaken – und somit die Wertschätzung für die schwere Arbeit im Rigg nicht verliert. Aber man darf auch nicht nur die nie endende Arbeit sehen, denn man hat aus dem Rigg einen unbeschreiblichen Ausblick auf das Meer um einen herum. Im Physikunterricht wurde einmal ausgerechnet, wie weit der Horizont entfernt ist. Die genaue Zahl ist nebensächlich, besonders wenn man auf der Nock der Mars steht, seine Arbeit kurz unterbricht, um einen kurzen Moment innezuhalten und sich ganz bewusst die Zeit zu nehmen, einfach nur den Blick schweifen zu lassen.

Einige Leute würden sagen, dass es langweilig ist, weil man doch nur Wasser überall sieht. Das ist aber keinesfalls so. Nicht nur dass das Wasser immer anders aussieht, blau, in den unterschiedlichsten Tönen, grau, mit weißen Schaumkronen oder einfach nur so glatt, dass sich der Klüverbaum auf der Oberfläche spiegelt, im Rigg kann man ein ganz besonderes Gefühl spüren: Dieses Schiff ist im Vergleich zu dem unbegreifbar großen Ozean so klein, es ist für die Besatzung aber der Mittelpunkt ihres Alltags und ihres täglichen Lebens. Dieser Ort ist ein „Mikrokosmos“, beinahe ganz abgeschnitten von der restlichen Zivilisation. Ob er wirklich Freiheit ist, kann man nicht sagen. Für manche mag es das definitiv sein, für andere ist es etwas ganz anderes, vielleicht Beklemmung und bei wieder anderen kann dieses Gefühl vielleicht gar nicht an die Oberfläche gelangen, überlagert von anderen Gefühlen. Aber wenn dieses Gefühl auftaucht, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es irgendwo im Rigg, weit über den fünfzig Metern unseres Zuhauses auftaucht!

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