Datum: Mittwoch, der 15.04.2015
Mittagsposition: Falmouth vor Anker, (0730) 50° 03,1′ N; 004° 59,9′ W
Etmal: 0 sm
Wetter: (0800) Lufttemperatur: 12,5° C, Wassertemperatur: 12°C, Wind: 0
Autor: Berny
So standen wir nun im Zentrum, dort, wo die Erwachsenen ihr Lager errichten werden. Wir selbst hatten bereits unsere Lagerstellen gesucht und mit unseren wenigen mitgebrachten Gepäckstücken gekennzeichnet. Nun leiteten wir gemeinsam mit einem Spruch zum Nachdenken das Solo ein. 24 Stunden: nicht reden, in keinster Weise mit anderen Personen kommunizieren und nachdenken – das war die Aufgabe.
Langsam lichtete sich der Versammlungsplatz, jeder ging seine Wege, sowie auch ich zurück zu meinem neuen Schlafplatz schritt. Schon allein dabei nahm ich meine Umgebung intensiver wahr, der Blick war nicht nur auf den Pfad gerichtet, dem ich weitgehend folgte, sondern schweifte interessiert durch die Gegend. Ich bog vom Pfad ab und stieg bzw. kletterte den Hang mitten durch unberührte Natur hinauf, bis zu einem Baum, dessen Äste sich auf Brusthöhe vom Stamm rundherum nach außen erstreckten und so etwas wie ein Dach bildeten, eher optisch, da es kahle Äste ohne Blätter waren. Ich richtete mir meine Isomatte hin, setzte mich darauf und genoss erst einmal diese vollkommene Stille. Ich hatte keine Uhr mitgenommen, um nicht über die Zeit nachzudenken. Nach ein paar gefühlten Minuten inspizierte ich mit meinen Augen alles um mich herum und hörte genau hin. Neben mir war überall saftig grünes Gras und Gestrüpp, dünne, lange Stängel mit Dornen hingen hier und dort, auch Laub, braune und welke Blätter waren auf dem Erdboden verteilt. Der Baum vor mir war in der Mitte gespalten, der Stamm war bemoost und hatte mehrere Astlöcher. Ich hörte verschiedenste Vögel schöne Melodien singen, weiter unten, nicht zu sehen, nur zu hören, rauschte beständig der Fluss beruhigend.
Das ist also jetzt meine Bleibe bis morgen Mittag, dachte ich mir.
Als ich mich in die Ruhe richtig eingefunden hatte, dachte ich über Themen nach, die mich in den letzten Tagen und Wochen beschäftigt hatten. Das war solch ein Privileg, denn zwei Dinge gibt es an Bord fast gar nicht: Stille und Zeit zum Nachdenken.
Irgendwann holte ich aus meinem Gepäck Klemmbrett und Stift heraus und schrieb Ergebnisse des Gedachten und momentane Gedanken auf. Als die Sonne schon auf ihrer Reise zum Horizont war, bekam ich doch Hunger, schließlich stellte das Frühstück die bis dahin letzte Nahrungszufuhr dar. Nach kurzem Überlegen nahm ich den Apfel und aß ihn bewusst und langsam. Während ich weiter schrieb, nun bis zum Oberkörper eingepackt in den Schlafsack, beobachtete ich, wie die Sonne langsam über dem Hügel verschwand. Es verblüffte mich, wie lange es danach doch noch ziemlich hell blieb. Als auch die Abenddämmerung vorüber war und die ganze Umgebung nun ein vollständig anderes Bild abgab, hörte ich plötzlich raschelnde Schritte irgendwo hinter mir. Ganz wohl war mir dabei nicht, ich schnappte mir meine Stirnlampe, brachte sie an meinem Kopf an und schaltete sie ein.
Noch einmal gab die Umgebung ein anderes Bild ab, erkennen konnte ich jedoch nichts, was dieses Geräusch verursachen hätte können. Nach gefühlten zehn Minuten des immer wieder Umschauens blickten mich links von mir auf einmal zwei grüne Augen an, die das Licht reflektierten. Langsam griff ich zu meiner Lampe und stellte sie heller. Erleichterung. Ein Reh! Dieses sprang, wahrscheinlich geblendet, schnell und Laute von sich gebend davon. Ich hörte es noch des Öfteren. Nach diesem Erlebnis legte ich meine Schreibsachen weg, kuschelte mich in den weichen Schlafsack, schaute in den klaren, wunderschönen Sternenhimmel hinter den schwarzen Silhouetten der Äste und schlief ein.
Ich wachte mit der Morgendämmerung auf, genoss die Sonne, als sie durch die Baumkronen des gegenüberliegenden Hügels wärmend in mein Gesicht schien. Ich nahm Klemmbrett und Stift wieder zur Hand und fing nun an, die ganze Reise reflektiert im Kopf durchzugehen und meine Gedanken aufzuschreiben. Es war seltsam darüber nachzudenken, obwohl die Reise noch nicht ganz zu Ende ist. Mir fiel viel ein. Wir hatten in diesen sechs Monaten so unvorstellbar viel erlebt…
Die Zeit verging wie im Flug und schon stand einer der Erwachsenen in Sichtweite, zeigte mir an, ich habe noch 30 Minuten, um zu packen und zum Zentrum zurückzukehren. Also schrieb ich die letzten Sätze in den Brief, den wir in sechs Monaten wiederbekommen werden, packte Isomatte und Schlafsack zusammen und stieg mit einem letzten Blick auf meinen Aufenthaltsort der letzten 24 Stunden hinab zum Pfad und folgte diesem bis zum Versammlungsort. Dabei nahm ich den Wald und den Fluss ganz anders wahr, entdeckte einige Einzelheiten, die mir davor nicht aufgefallen waren, freute mich über zwei Schwäne auf dem Wasser.
Im Zentrum angekommen herrschte noch Stille, nach und nach trafen aus allen Richtungen die anderen KUSis ein. Als alle beisammen waren, brachen wir gemeinsam das Schweigen mit einem Lied und darauf vollkommen mit einem dreifachen ,Hipp hipp, hurra‘. Abschließend machten wir noch eine kurze Reflexionsrunde, in der jeder erzählte, wie es ihm ergangen war, jeder hatte andere, eigene, persönliche Erlebnisse in diesen 24 Stunden. Damit war das Solo beendet und wir machten uns auf den Weg zurück in unseren Alltag an Bord der Thor Heyerdahl.