Datum: Donnerstag, der 19.03.2015
Mittagsposition: 36° 28,6′ N; 040° 49,7′ W
Etmal: 162,9 sm
Wetter: Lufttemperatur: 20° C, Wassertemperatur: 19°C, Wind: SSW 6
Autor: Johannes
Im Folgenden lesen Sie eine kunsthistorische Betrachtung zur Essensglocke der „S/S Thor Heyerdahl“ aus Kiel. Für das Magazin „Kunsthistorie heute“ hat unser Autor Johannes die „Thor Heyerdahl“ während ihrer Atlantiküberquerung von den Bermudas zu den Azoren begleitet und konnte diesen einzigartigen und besonders bedeutenden Gegenstand aus der Glockenkunst der Traditionsschifffahrt näher betrachten – sowohl aus materieller als auch alltäglicher Perspektive.
Sie ist exakt 21 cm hoch und am äußersten Rand 9,5 cm breit. Die Essensglocke des Toppsegel-Schoners Thor Heyerdahl ist ein ganz besonderes Stück aus der Seefahrerzeit eines deutschen Segelschiffs.
Die Glocke selbst besteht aus einer Legierung von Kupfer und Zinn, ebenso wie die Spitze der Halterung. Bei diesem Modell handelt es sich um eine Stabglocke, da die Glocke an einem Holzstab befestigt ist. Der Holzstab ist höchstwahrscheinlich aus Buche geschnitzt worden. Die schlanke Form, bei der die Proportionen von oben nach unten geringer werden und am unteren Ende wieder zunehmen, sowie die eingearbeiteten Ringe sind typisch für das Ende des 20. Jahrhunderts.
Man kann deutliche Gebrauchsspuren erkennen, was zum Beispiel an fehlendem Lack an einigen Stellen zu erkennen ist. Dies lässt auf einen häufigen Gebrauch schließen. Außerdem finden sich auf der Glocke viele Flecken, womöglich Überreste eines Reinigungsmittels für die Glocke, da sich diese nämlich in einem äußerst guten Zustand befindet. Spuren dieses „Poliboy“-Reinigers wurden auch an der Kompasssäule und anderen legierten Gegenständen an Bord des Schiffes festgestellt, die – wie der Zustand vermuten lässt – regelmäßig gepflegt wurden.
Ebenso wie die Abnutzungen am Holzstab weist der Ring auf der Innenseite der Glocke, der durch den Schlegel verursacht wurde, auf ein häufiges Läuten hin.
Die Aufbewahrung dieses seltenen Stückes ist nicht dem Wert entsprechend, ja, sie ist nahezu unerhört. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die hoch oben an der Wand in der Messe thront, wird sie nur in einem Eisengitter in der Kombüse gelagert, wo die Luftfeuchtigkeit durch das häufige Heißwasserkochen das Messing angreift. Viel schlimmer ist noch, dass sie manchmal wegen der Unachtsamkeit einiger Schüler im Freien am Hauptdeck liegen gelassen wird. Die nächtliche Kälte des Meeres beschädigt den Klang der Glocke insgemein und verschlechtert den Zustand auf Dauer. Zur Klangerzeugung wird der Schlegel durch geschicktes Hin- und Herbewegen des Haltestabes bewegt und lässt aufgrund der Trägheit die Glocke bei einer entgegengesetzten Bewegung des Stabes erklingen.
Dieses Artefakt dient, wie oben schon erwähnt, als Essenssignal auf dem Schiff. Immer wenn ihr Ton erklingt, weiß die Besatzung des Segelschiffes, dass es Zeit zum Essen ist, die Mahlzeit also bereit steht. Bei den Seefahrern wird die Pünktlichkeit sehr groß geschrieben, wie der berühmte Spruch „fünf Minuten vor der Zeit ist des Seemanns Pünktlichkeit“ zeigt.
Somit wird Berichten von Besatzungsmitgliedern zufolge immer 5 Minuten vor dem Essen, geläutet – und das immer zur selben Zeit, nämlich um 12 Uhr mittags (dort erst nach dem Glasen um Punkt 12), 15 Uhr nachmittags und 18 Uhr abends. Aus diesen Uhrzeiten ergibt sich an Bord die Struktur des Tages. Ertönt das Geräusch, so unterbrechen alle ihre Arbeit, räumen gegebenenfalls ihr Werkzeuge bzw. Gebrauchsgegenstände weg und begeben sich anschließend in die Messe, sodass die Mahlzeit auch pünktlich beginnen kann. Ein Rundgang, der an der Personalkammer, ganz vorne am Schiff, von dort in Richtung Achterschiff geht und schließlich vorbei an den Kammern und der Last wieder in der Kombüse endet, sorgt dafür, dass alle das wichtigste Signal des Tages hören. Zum Teil wird sie auch zum Einläuten der „Stillen Minute“ verwendet, bei der man eine Minute der Stille verbringt, um den Tag zu reflektieren oder um vor sich hinzuträumen.
Laut der Aussage eines Steuermannes verströmt der Klang der Glocke ein glückliches Gefühl der Zufriedenheit, da es eine willkommene Pause zwischen der Arbeit oder auch dem normalen Wachgang ist.
Der Klang dieses Artefakts hier ist sehr bestimmt, was sich anhand der Tonlage erklären lässt, die bei dieser Art von Klanginstrument einem hohen C entspricht. Bei der Wahrnehmung dieses Tons werden bei der Crew des Schiffes Glückshormone im Körper freigesetzt, was die Stimmung an Bord zwischendurch anhebt.
Umso verärgerter ist die Besatzung deswegen, wenn das Klanginstrument wegen starkem Seegang oder unvorsichtigem Leuten ertönt und man bei einem Blick auf die Uhr enttäuschend feststellen musste, dass es ein Fehlsignal ist.
Der Wert dieses Stücks beträgt materiell wohl nicht mehr als 10 € aufgrund des Zustandes des Holzstabes. Doch dieses wertvolle Artefakt aus nicht allzu vergangener, jedoch bedeutender Zeit sollte weiterhin gepflegt und gut behandelt werden. Nur der Stamm der Thor Heyerdahl selbst kennt den unschätzbaren Wert dieser Glocke und würde deswegen nie seine geliebte Essensglocke verkaufen.