Datum: Dienstag, der 24.03.2015
Mittagsposition: 38° 31,9′ N; 028° 37,2′ W
Etmal: 82,8 sm
Wetter: Lufttemperatur: 15,5° C, Wassertemperatur: 16°C, Wind: NE3-4
Autorin: Aurélie
Verschlafen stehe ich auf, in 30 Minuten muss ich oben auf dem Achterdeck stehen, angezogen, passend für jedes Wetter, die Ölzeugjacke immer griffbereit, wir könnten ja einen Böeneinfall haben. Alle anderen in meiner Kammer schlafen noch tief und fest, es ist stockdunkel in unserer kleinen, engen und verzweigten Kammer. Ich taste in der Schwärze nach meinen Fächern. Wie zu Hause stellt sich mir wie jeden Morgen auch hier die Frage: Was kann ich bloß anziehen? Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied:
Während ich Zuhause vor meinem Schrank stehe und sehr viel Auswahlmöglichkeiten habe, sodass ich mich gar nicht entscheiden kann und doch wieder zu spät zum Frühstückstisch erscheine, läuft das hier etwas anders. Während also die Zeit weiterläuft, und ich immer noch völlig übermüdet auf meinem Bettrand sitze und mich nicht entscheiden kann, was ich anziehen soll, verfalle ich in einen Zustand, in dem ich im Halbschlaf, die letzten sechs Monate klamottentechnisch Revue passieren lasse:
Ich weiß noch genau, wie es eine Woche vor der Abreise nach Kiel bei mir Zuhause zuging. Ein Seesack á hundert Liter, ein Trekkingrucksack á 90 Liter und ein kleiner Tagesrucksack – das war die begrenzte Anzahl an Gepäckstücken, die wir zum Auslaufen mitbringen durften. Das sollte für sechs Monate reichen?!?
Selbst in den größeren Kammern hat man meist nur drei Fächer zur Verfügung, um seinen gesamten Krempel zu verstauen. Viel Platz für Klamotten ist da nicht. Auch auf der vorgegebenen Packliste ist jedes T-Shirt und jede Hose abgezählt. Ich erinnere mich an eine Situation, drei Tage bevor es nach Kiel gehen sollte: Ich sitze zwischen einem Haufen von Wäsche, schicke den KUS-Mädels per Whatsapp hilflose Fragen, welchen Pulli sie am schönsten finden, welchen ich mitnehmen soll und kann mich einfach nicht entscheiden.
Im Nachhinein merke ich, dass ich die falsche Frage gestellt habe. Anstatt zu fragen, welcher am besten aussieht, hätte ich eher fragen müssen, welcher am praktischsten ist.
Schön und neu bleiben unsere Klamotten hier nämlich nicht. Unsere Waschmachine ist fast unfähig, unsere Wäsche wieder neu erstrahlen zu lassen und ich habe die geheime Vermutung, unser Trockner ist in Wirklichkeit ein Killer, der alles zerfleischt, was ihm in den Weg kommt. Mittlerweile interessiert es hier niemanden mehr, wie man herumläuft – im Gegenteil: Wir sind es gewohnt, uns in Jogginghosen oder Boxershorts, einem zu großen Pulli und einem fleckigen T-Shirt, das einfach nicht mehr sauber werden will, zu sehen. Sofort wird man verwirrt gefragt, warum man sich so schick anziehe, wenn man es nach Wochen des Gammelns auch nur wagt, eine einfache, alte Jeans anzuziehen.
Und was hier an Weihnachten und Silvester los war, als wir Mädchen es nach drei Monaten nackter Wahrheit wagten, wieder Schminke aufzulegen. In Gruppen von zwei oder drei Mädchen standen wir vor dem Spiegel, sahen uns an und fragten uns, wer diese Fremden bloß seien.
Einige waren sogar so schlau gewesen, ein hübsches Kleid für besondere Tage mitzunehmen, und als die Jungs auch noch ihre Hemden auspackten, kam man sich zum ersten Mal seit langem wieder richtig herausgeputzt vor. Aber wie bereits gesagt: Dass hier jeder so ordentlich gekleidet ist, ist eher die große Ausnahme. Es hat trotzdem positive Seiten, dass wir uns alle in mehr oder weniger kaputten und verschmutzen Klamotten fortbewegen. So herrscht hier an Bord zum Beispiel keine Ausgrenzung, weil man mal nicht die neuesten, schönsten und teuersten Klamotten trägt. Alle sind gleich. Und das größte Gemeinschaftsgefühl entsteht sowieso, wenn wir unsere Blaumänner (bei Schiffsarbeiten) oder eben unser Ölzeug tragen.
Ich bin mir ziemlich sicher: Würde ich in Deutschland mit Ölzeughose in die Schule gehen, erntete ich dafür nur komische Blicke. Wenn ich aber hier in den Offshore-Klamotten herumlaufe, begegnen mir auf meinem Weg noch einige weitere Personen, die genauso angezogen sind wie ich. Es ist ein unglaublich angenehmes Gefühl, zu wissen, dass man hier so herumlaufen kann, wie man will, und von den anderen dennoch akzeptiert wird, da sie das Ganze genauso angehen. Zudem hat das Ölzeug definitiv seine Vorteile. Mittlerweile liebe ich meine Ölzeugjacke nämlich derart, dass ich auch an Land darin herumlaufe. Nichts hält Wasser und Wind besser von mir fern als meine treue Begleiterin.
Und wenn man von Anja auch noch gesagt bekommt, man sähe in dem eng anliegenden Ölzeug sehr gut aus, weil es einfach perfekt sitzt, dann kommt man sich sogar mal im normalen Bordalltag „elegant“ vor. Wobei man das Ölzeug ja meist auch nur zur Wache trägt…
Das Wort Wache geht mir mehrmals durch den Kopf. Plötzlich schrecke ich hoch. Ich sitze immer noch auf meiner Koje, mir ist kalt und als ich auf die Uhr schaue, durchfährt es mich. Ich habe glatt 20 Minuten vor mich hingeträumt und muss in 5 Minuten oben auf dem Achterdeck stehen. Jetzt aber schnell! Eilig gehe ich die Punkte durch, die man sich immer stellen sollte, bevor man sich etwas anzieht:
1. Ist es draußen kalt, sehr kalt oder scheint die Sonne?
Sollte es kalt sein, stellt sich die Frage, ob es derartig „Eiszeit“-kalt ist, dass man Skiunterwäsche und einen oder zwei Pullis braucht, zusätzlich zum Ölzeug. (Die Jogginghose ist obligatorisch.)
2. Wie (und jetzt kommt der Zeitpunkt, an dem selbst die Mädchen Jungs-Alüren entwickeln) oft habe ich das, was ich anziehen will, schon getragen und wie frisch riecht es noch? Riecht es noch frisch, zieht man es an.
Ist der Geruch nicht mehr der beste, überlegt man kurz, wann man wieder Waschtag hat, rechnet nach, dass man T-Shirts sparen muss und zieht die Anziehsachen trotzdem an.
Letztendlich mache ich es dann meistens nicht anderes als Zuhause. Ich schnappe mir, weil ich mal wieder viel zu spät bin, irgendwelche Klamotten, werfe sie mir in einer völlig unlogischen Reihenfolge über, und eile nach oben aufs Achterdeck. Ich merke schon, heute wird mal wieder so ein Tag, an dem man sicher nicht zu hören bekommen wird, wie hübsch man in diesem Outfit aussieht. Na egal, wie war das doch gleich? Alle haben irgendwie das Gleiche an und doch schafft es jeder für sich, aus der Menge herauszustechen. Das ist schon ein Kompliment für sich, oder etwa nicht?