Ein Narrenschiff?

Judith

vno Judith

Es ist 4:30 Uhr und ich bin nicht allein in meiner Kammer. Es ist 4:30 Uhr MORGENS, wir befinden uns mitten auf dem Nordatlantik, 700 Seemeilen vor den Azoren und vor meiner Koje steht ein erwachsener, bärtiger Mann in einem Fleece-Overall mit Kapuze und rezitiert ein Gedicht. Ich reibe mir die Augen, der Mann ist immer noch da. Beginne ich, vor Seekrankheit und Schlafmangel zu halluzinieren?

Glücklicherweise nicht, alles ist in Ordnung: Vor mir steht nur Johannes, der mich zu meiner Wache weckt, heute eben mit einem Gedicht:

„Liebe Judith, du darfst jetzt aufwachen,
du sollst dich zur Wache fertig machen.
Dir noch 30 Minuten verbleiben,
um ins warme Ölzeug zu steigen.
Ein Pulli ist empfehlenswert,
sonst macht ihr uns dann gleich noch kehrt,
denn 14° zeigt euch das Thermometer,
ob`s wärmer wird, siehst du dann später.
Der Regen ist nicht aufgetaucht,
das Ölzeug aber doch gebraucht.
Die Sterne sind für uns nicht sichtbar,
die Wolken jedoch umso dichter.
Morgenstund hat Gold im Mund,
wir seh’n uns in ’ner halben Stund!“

Es sind Momente wie dieser, weshalb ich das Bordleben, insbesondere auf den längeren Seeetappen, sehr lieb gewonnen habe. Im Vorfeld der Reise erntete ich oft erstaunte bis erschrockene Blicke wenn die Sprache auf die langen Atlantiketappen kam: “Was, drei Wochen nur Wasser sehen? Das ist aber schwer auszuhalten!”. Damals wusste ich noch nicht, wie es mir damit gehen würde. Aber heute weiß ich, dass ich in Zukunft mit wehmütigem Blick und einem Lächeln auf diese Etappen zurückblicken werde. Denn für dieses ganz besondere Gefühl, das sich dann einstellt, benötigt es etwas Zeit.

Solange die Thor sich in der Weite des Atlantiks bewegt, schafft sie sich mit jeder Meile, die wir uns vom Festland entfernen, ihr eigenes Universum. Prioritäten verschieben sich, reduzieren sich einerseits auf das absolut Notwendige (warme, trockene Kleidung ist so viel wichtiger als Farb- und Stilkombinationen), andererseits wird der Umgang miteinander bedeutsamer. Und mit der Abnahme von Komplexität, weil man sich nur noch mit der Welt an Bord auseinandersetzen muss statt mit der ganzen Welt, kehrt einerseits eine größere Ruhe ein, andererseits erlebt man seine Tage in der eingeschworenen und voneinander abhängigen Gemeinschaft intensiver. Wir bewegen uns in einer reduzierten Realität: Viele Dinge, die an Land von Bedeutung sind, verlieren diese sobald wir die Festmacher eingeholt haben und das letzte Fleckchen Land am Horizont verschwindet. Wir tauschen die Bedeutung dieser Dinge ein gegen das, was in unserem Zuhause wichtig ist:

Kleine Gesten, die meinen Tag verändern. Kleine Gesten, wie das Weckgedicht der Vorwache, aber auch die Frage eines Schülers im Gang wie man geschlafen hat. Kleine Gesten wie ein freundliches Lächeln, mit dem man von der Backschaft nach seinen Wünschen gefragt wird. Diese kleinen Gesten gewinnen an Wert. Kleine Höhepunkte (wie Nutella oder ein Rudergänger-Keks) auch, natürlich ist gerade auch das Essen ein ständiger Quell für Freud und Leid, das kann man nicht weg reden. Es dreht sich aber um mehr als ums Essen. Wir haben zur Gestaltung des Tages nur das zur Verfügung, das schon an Bord ist, und natürlich das Schiff selbst, das stetige Aufmerksamkeit fordert. Wir haben nur uns. Nur? Wir haben uns. 48 Menschen auf 50m, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. 48 Charaktere mit eigenen Wünschen, Vorstellungen, Stimmungen und Bedürfnissen. Aber auch 48 Persönlichkeiten mit Talenten, Begeisterung, Witz und Empathie. Wir allein entscheiden, wie die Tage auf See werden, wie wir unser Zusammenleben gestalten. Halten wir uns nur aus oder tragen wir uns durch? Das Schiff und das Wetter geben die Rahmenbedingungen vor: Die Wache muss gegangen werden, auch im Regen, dann eben in Ölzeug und Gummistiefeln, auch wenn die warme trockene Koje so viel gemütlicher wäre. Aber wie ich dazu aufgefordert werde, in meine Gummistiefel zu schlüpfen, das bleibt uns überlassen. Kleine Gesten, die meinen Tag verändern.

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