Vom im Ausguckstehen

Schüler Henry

von Henry

Immer, egal ob am Tag oder in der Nacht, ob bei Sturm oder im Regen, steht hier auf der Thor jemand im Ausguck. Auch ich stand heute wieder im Ausguck und ließ meinen Blick über die See schweifen. Ich hatte einmal gehört, dass Späher ihren Blick über die Landschaft gleiten lassen und dabei immer wieder zurückgucken, um auch kleinste Veränderungen zu bemerken. Hier auf See hat das nicht funktioniert, weil sich sowieso alles bewegt. Oft ist es schwierig, kleine Schiffe am Horizont von Wellenkämmen zu unterscheiden. Auf dem Atlantik standen wir oft tagelang im Ausguck, ohne ein einziges Schiff zu sehen, aber hier auf der Nordsee, wo große Schifffahrtsrouten zusammenfließen, scheint der Horizont in der Nacht wie eine Lichterkette.

Als wir vor sechs Monaten zum ersten Mal über die Nordsee fuhren, wussten wir noch viel weniger über die Lichterführung und hatten immer einfach nur gemeldet, dass irgendwelche Lichter zu sehen wären. Mittlerweile können wir anhand der Lichter erkennen, was für ein Schiff da in welche Richtung fährt, ob es unter Maschine oder Segeln fährt, wie lang es ist und auch, ob wir ihm ausweichen müssen. Im Ausguck beobachten wir außerdem das Wetter und melden, falls sich Wolkenberge auftürmen oder Regenwände auf uns zu kommen.

Während man im Ausguck steht, lässt man aber nicht nur den Blick, sondern auch die Gedanken schweifen. Wolfgang, unser Bordarzt, der jeden Samstag bei Besanschot an seine Gedichte vortrug, schrieb diese in seinen Stunden im Ausguck, und ich selbst habe, größtenteils im Ausguck, ein 18-strophiges Lied über die Reise geschrieben. Während heute nun am Horizont die Bohrinseln blinkten (genauer gesagt morsen sie „U“), dachte ich über unsere Reise nach. Seit über sechs Monaten reisen wir nun über die See.

Vor drei Monaten haben wir mit Panama zu letzten Mal das Festland verlassen und waren seitdem nur auf Inseln unterwegs. Heute habe ich im Ausguck zum ersten Mal wieder Festland gesehen, da wir so nah an den Niederlanden vorbeifuhren. Schon morgen werden wir wieder deutsches Seegebiet erreichen und übermorgen werden wir uns in den Nord-Ostsee-Kanal einschleusen. Seitdem wir Kiel verlassen hatten, ist gefühlt schon viel mehr Zeit als nur sechs Monate vergangen und wir haben so viel erlebt, wie sonst in Jahren.

Meine Wache war am Nachmittag schon ein paar Stunden her, doch immer noch stand jemand im Ausguck. Am Horizont erschien ein kleiner Punkt und wurde rasch größer. Ein Hubschrauber der niederländischen Küstenwache flog auf die Thor zu und rauschte nur wenige Meter über dem Wasser an ihr vorbei. Er drehte nach ein paar hundert Metern um, anscheinend wollten sich die Piloten das Schiff anschauen. Plötzlich öffneten sie ihre Tür und streckten ein Schild heraus. Darauf stand in großen Zahlen „67“. Nach etwas nachdenken, wechselten wir auf den Kanal 67, auf dem sie uns anfunkten. Sie fragten uns, ob sie kurz eine Übung machen könnten, was Malte auch erlaubte. Der Hubschrauber flog darauf übers Achterdeck und seilte von oben zwei Männer ab. Wir unterhielten uns mit ihnen und Julius brachte ihnen Kekse. Die beiden lobten unser Schiff und wurden nacheinander wieder vom Hubschrauber eingesammelt.

Der Ausguck ging wieder auf seine Position und wir fuhren weiter, mit vier offenen Augen, die weiterhin wachsam jedes Schiff und jede Bohrinsel meldeten.

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