20 Meter über dem Meer

Thomas

Datum: Mittwoch, 01.11.2017
Mittagsposition: 44° 05,9´ N; 010° 45,3´ W
Etmal: 142 sm
Wetter: Lufttemperatur 17,5 °C; Wassertemperatur 18 °C; Wind: SSW 3
Autor: Thomas

20 Meter über dem Meer befindet sich das Rigg. Es befindet sich aber nicht nur dort, denn das Rigg ist der Bereich des Schiffes ober- und außerhalb des Decks. Es reicht vom Klüverbaum, der so etwas wie ein quer verlaufender, kurzer Mast am Bug ist, bis nach hinten zum Besanmast und der höchste Punkt befindet sich in 29 Metern Höhe.

Die Meinungen zum Rigg sind geteilt: Manche lieben es und klettern auch in ihrer Freizeit am liebsten ganz nach oben, andere würden nie auch nur einen Fuß hinein setzen. Und doch sind sich die meisten einig: Das Rigg ist etwas ganz Außergewöhnliches. 20 Meter über dem Meer ist die Welt nämlich etwas anders als auf dem Deck. Eine frische Meeresbrise weht um meine Nase, während ich auf der Saling (das ist eine kleine Plattform oben am Mast) sitze. Das Schwanken der Thor erscheint hier oben noch stärker als an Deck. Der Ausblick, den das Rigg bietet, übt eine ganz eigene Faszination aus. Blicke ich nach vorne, kann ich die unermessliche Weite des Ozeans um mich erahnen. Wenn wir in Landnähe sind, ist die Aussicht von hier aber oft noch beeindruckender, die grünen Wiesen und schroffen Felsen Cornwalls wirken von unserem eigenen „Aussichtsturm“ aus wie gemalt. Ich senke meinen Kopf und sehe den Bug unseres Schiffes, während es durch die Wellen pflügt. Die Thor wirkt aus diesem etwas anderen Blickwinkel einerseits etwas klein und verloren im weiten Atlantik, aber auch stolz und majestätisch. Dann kommt das Deck in mein Blickfeld und ich kann geschäftige, leuchtend rote Ameisen erkennen: In ihr Ölzeug eingepackte KUSis arbeiten an den Tampen (so nennt ein Seemann die Seile an Bord). Das Treiben an Deck scheint jedoch weit entfernt, hier oben herrscht eine ruhigere Atmosphäre, vielleicht ist sie sogar etwas feierlich. Das liegt natürlich auch nicht zuletzt an der Höhe, die ein etwas mulmiges Gefühl und eine erhöhte Vorsicht zur Folge hat, obwohl wir natürlich durch Klettergurte gesichert sind.

Und warum bin ich nun hier oben auf dem Großmast, dem mittleren der drei Masten? Gründe, aufzuentern (Seeleute haben für fast alles eine eigene Bezeichnung, Landratten würden „ins Rigg klettern“ sagen), gibt es viele: Oft kommen wir wegen des vorhin erwähnten fantastischen Ausblicks hoch auf die Masten, auch die besondere Stimmung hier oben oder der Spaß am „Rumkraxln“ locken uns in die Höhe. Der eigentliche Hauptgrund fürs Aufentern ist aber natürlich die Arbeit an den Segeln, weshalb ich auch hier stehe. Da der Wind gedreht hat und nun von vorne kommt, können wir leider nicht mehr weiter segeln. Um möglichst wenig Angriffsfläche für den ungünstigen Wind zu bieten, soll das Großtoppsegel, also das dreieckige Segel oben an der Großmaststenge, gepackt werden. Das bedeutet, wir binden es möglichst ordentlich und kompakt an den Wanten (das Vokabular eines Seemanns ist groß, hiermit meint er Stahlseile, die quer zum Schiff den Mast hinauf laufen) fest. Diese Aufgabe scheint zunächst nicht allzu schwer, jedoch ist das Packen nicht so leicht, wie es klingt: Das Segel ist nicht gesetzt und bildet einen Tuch-Wulst von ungefähr drei Metern Höhe und einem Durchmesser von einem Meter. So baumelt es neben mir und ich soll es mit Seilen umwickeln und festbinden, während ich auf einer extrem kleinen, schaukelnden Plattform in 20 Metern Höhe stehe. Zum Glück habe ich vorhin „wir“ geschrieben, dabei helfen mir nämlich Benedict und unser Bootsmann Nick. Das Packen des Großtoppsegels ist aber natürlich nur eine von vielen Aufgaben, die es im Rigg zu erledigen gibt: Selbstverständlich kann man alle anderen Segel auch packen, ich habe beispielsweise schon das Bramsegel (hiermit meint ein Segler das oberste Segel am vorderen Mast) gepackt, und logischerweise müssen gepackte Segel auch wieder entpackt werden. Außerdem müssen manche Tampen je nach Segelstellung anders geführt werden, wozu dann jemand aufentern muss. Ab und zu müssen natürlich auch Reparaturen im Rigg durchgeführt werden.

Aber ganz egal, warum oder wie oft man nun aufgeentert ist, hier zu sein ist jedes Mal etwas Besonderes und Faszinierendes, 20 Meter über dem Meer.

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