In der Nacht wachen ohne über Privilegien zu lachen

Jakob

Datum: 04.12.2018
Mittagsposition: 12° 35,2‘ N; 061° 24,1‘ W
Etmal: 41 sm
Wetter: Lufttemperatur: 28,5 °C; Wassertemperatur: 28,5 °C; Wind: ENE 3-4
Autor: Jakob

[Dieser Text wurde als kultureller Beitrag von Jakob zum letzten Besanschotan der Atlantik-Etappe vorgetragen.]

Laut Bordzeit ist es kurz vor Mitternacht, als der rote Planet bei Durchtauchen des Wellentals auf der oberen Kante des höchsten Rahsegels zum Stehen kommt. Gleich darauf reitet der Rumpf auf die nächste Welle und damit das gesamte Schiff in die Höhe. Mars verschwindet hinter dem weißen Tuch. Sekunden später tänzelt er wieder empor, gleich einem Rhythmus folgend. Noch ist er auf der Backbordseite zu sehen, in wenigen Stunden wird er auf der Steuerbordseite ins Meer tauchen.
Stampft das Vorschiff nach unten in das schwarze Nass, steigt das Achterschiff wie durch eine Feder gehoben nach oben. Die Geräuschkulisse ist schnell skizziert: das Rauschen des Wassers am Heck, das Klatschen der Wellen gegen die Bordwand, das Knarzen des Besanmastes, ein Ächzen unterschiedlicher, bis aufs Äußerste gespannter Tampen, das Klackern des Steuerrades, an dem konzentriert eine Rudergängerin steht und den Magnetkompass beobachtet, das Wispern des Windes, noch kein Pfeifen. Die dem Schiff nächsten Menschen befinden sich manchmal vielleicht zehn Kilometer über uns, wenn ein Flugzeug den Kurs des Traditionsseglers kreuzt. Das letzte Schiff wurde vor gut einer Woche gesichtet, dennoch wird gehörig Ausguck gegangen, wie das in den nautischen Handbüchern formuliert wird. Manchmal vermeint ebendieser in Stille verharrende Beobachter am Horizont etwas zu sehen, eine leichte farbliche Veränderung, eine Schattierung, vielleicht gar ein Licht. Der entsprechenden Meldung wird mit Ferngläsern nachgegangen, angestrengt sehen mehre Augenpaare in die schwarze Weite. Nein, wir sind alleine hier draußen.
Der Himmel ist vermeintlich ebenso spärlich bevölkert. Der bereits abnehmende, doch immer noch rundliche Mond lässt mit seinem grellen Licht die meisten Sterne verblassen. Lediglich die hellsten von ihnen sind zu sehen: Mirach im Andromeda, Sirius, Aldebaran über dem Orion, Achernar im Eridanus, Deneb im Schwan. Das Kreuz des Südens wird in wenigen Tagen querab von uns aufgehen, unter dem Achterschiff am Himmel, über dem Achterschiff auf See. In dieser menschenverlassenen Gegend durchpflügt der Stahlrumpf atlantisches Wasser. Der seit Tagen unveränderte Kurs von Westsüdwest gebärdet sich als unbeirrbar, wie von unsichtbaren Fäden gezogen bahnt sich das Schiff geradlinig seinen Weg durch ewig gleiches und permanent veränderliches Wasser. Werden die Bordinstrumente ausgeblendet, lassen nur der Sonnenstand, die Gestirne und der konstante Nordostpassat Rückschlüsse auf den eingeschlagenen Weg und das anvisierte Ziel zu.
Joshua Slocum, der Ende des 19. Jahrhunderts als erster Mensch allein die Welt umsegelte, beschreibt, wie sein Pfad mit ebenjener naturgesetzlichen Abfolge verzahnt:

„Tag auf Tag segelte ich mit raumen Wind und trug die Position meines Schiffes mit großer Genauigkeit in die Karte ein; aber es geschah wohl eher nach Intuition als nach sklavischer Rechnerei. Denn einen ganzen Monat lang hielt mein Schiff seinen Kurs von allein. Ich hatte in dieser Zeit nicht einmal ein Licht im Kompasshäuschen brennen. Querab sah ich jede Nacht das Kreuz des Südens. Achtern ging jeden Morgen die Sonne auf; und voraus ging sie jeden Abend unter. Ich brauchte keinen anderen Kompass, denn dieser war der genaueste. Wenn ich nach langer Zeit auf See an meinem Besteck zweifelte, überprüfte ich es, indem ich die Uhr hoch oben ablas, die der große Architekt gemacht hat, und es stimmte.“

Millionen von Menschen haben den Atlantik mit dem Schiff gequert, wohl Milliarden mit dem Flugzeug übersprungen. Nur ein Bruchteil dessen hat mit dem Wind als alleinigem Antriebsmittel übergesetzt, zu jenem Kontinent, der bis heute als neue Welt bezeichnet wird und damit der gewaltsamen Idee Europas Tribut zollt, Amerika entdeckt zu haben. Entdeckt wurde eine neue Welt, wohl wahr, war sie doch Kolumbus und seinen Zeitgenossen unbekannt. Dass diese neue Welt vornehmlich jedoch eine andere war, führte zu jener historischen Zäsur, die als Eroberung einen wohl zu simplen Begriff in Anbetracht der Folgen gefunden hat. Es war das erste Mal in der abendländischen Geschichte, dass eine Begegnung mit einem anderen stattgefunden hat; mit einem anderen, das über geographische Distanz hinweg von einem gänzlich ungekannten Gegenentwurf in Lebens- und Denkweise gezeichnet war und aufgrund der vollkommenen Isolation auch keine zaghaften Austauschversuche zugelassen hatte, wie das bis zu diesem Zeitpunkt der Fall gewesen ist. Über die nordafrikanischen Gebiete wussten bereits die Römer Bescheid, mit dem fernen Osten gab es seit Langem Handel und Korrespondenz. Von vielen unentdeckten Gebieten und Völkern wusste, vermutete man. Dass sich bei der Suche nach einem Handelsweg, der vor allem wertvolles Gewürz und Gold einbringen sollte, ein ganzer Kontinent mit seiner Bevölkerung in den Weg stellte, war hingegen unvorhersehbar. Die Reaktion Europas auf diese Entdeckung wurde – wie so oft  – im Lichte des Defizits interpretiert: das andere ist ein Dorn im Auge abendländischer Zivilisation. Und er sollte einer bleiben, auch im Lichte der Aufklärung. Kulturen wurden zerstört, Völker ausgerottet, Millionen Sklaven verschleppt. „Seit der Zeit der conquista“, so der bulgarische Philosoph Tzvetan Todorov, „hat sich Westeuropa fast dreihundertfünfzig Jahre lang bemüht, den anderen zu assimilieren, die äußere Alterität zu beseitigen und seine Wertvorstellungen haben sich auf der ganzen Welt ausgebreitet; wie Colón es wollte, haben die Kolonisierten unsere Sitten übernommen und sich wie wir bekleidet.“

In ebendiesem Kielwasser und auch jenem der Sklavenschiffe von der Westküste Afrikas in die Karibik befindet sich der Dreimast Toppsegelschoner „Thor Heyerdahl“, der seit mittlerweile über einem Monat mit drei Dutzend Jugendlichen auf großer Fahrt ist und dabei – so die Ausschreibung – den Spuren der großen Entdecker folgt. Was bedeutet ein solches Unternehmen im Angesicht der europäischen Gewaltgeschichte? Und, damit in Verbindung stehend, wie kann man eine solche Fahrt ins Verhältnis setzen zu den unfreiwilligen Fahrten von Flüchtenden, die täglich an der Brandung Europas zerbersten?

Stefan Zweig setzte sich literarisch mit Magellan auseinander, jenem Mann, dem die erste Weltumsegelung der Menschheit zugeschrieben wird. Dass dies eigentlich nicht ihm gelang – erlag er doch auf den Philippinen einem gewaltsamen Gefecht – sondern seinem bereits vor der großen Fahrt verschleppten Sklaven, der dann – wider seinem Willen – Jahrzehnte später von Osten kommend wieder seine Heimat im Pazifik erreichte, ist symptomatisch nicht bloß für die europäische Geschichte, sondern vor allem für dessen Geschichtsschreibung. Zweig also befasst sich mit dieser großen Fahrt, wohl in verklärender Art und Weise, doch mit einer literarischen Tuchfühlung, die einen unerhörten Vergleich provoziert: jenen zwischen den Konquistadoren, oftmals verzweifelte Existenzen der frühen Neuzeit, die Europa den Rücken kehrten, in der Hoffnung, Reichtum in der Ferne zu finden, und den Flüchtenden, die gegenwärtig Europa als festes Ziel vor den Augen haben, vom Glauben getrieben, hier ein besseres Leben zu erwarten.
Zweig schreibt in der Vorrede zu seinen Ausführungen zu Magellan vor allem vom Gefühl der Scham, das ihn überkommt, als er, sich seiner Privilegien an Bord gewahr werdend, darüber reflektiert, welche Menschen vor ihm den Weg ins Unbekannte genommen haben. Ein ähnliches Schamgefühl begleitet auch mich, weniger angesichts einer wie auch immer gearteten Ehrfucht vor den Seefahrern der europäischen Expansion, als viel mehr im Lichte der vergangenen und gegenwärtigen Migrationsgeschichte, die auch zur See fährt.

„Da reist du, sagte ich mir zornig, in dem denkbar sichersten aller Schiffe auf der denkbar schönsten Fahrt, und aller Luxus des Lebens steht dir zu Gebote. Ist dir abends zu kühl in deiner Kajüte, so brauchst du nur mit zwei Fingern einen Hahn zu drehen, und die Luft ist gewärmt. Du findest das Mittagslicht des Äquators zu heiß; sieh, nur einen Schritt hast du in den Raum mit den kühlenden Ventilatoren und zehn Schritte weiter steht ein Schwimmbad dir bereit. Bei Tisch kannst du jede Speise und jedes Getränk auf diesem vollkommensten aller Hotels dir wählen, alles ist zauberisch da, wie von Engeln hergetragen und im Überfluß. Du kannst allein sein und Bücher lesen oder hast Bordspiele und Musik und Geselligkeit, so viel du begehrst. Alle Bequemlichkeit ist dir gegeben und alle Sicherheit. Du weißt, wohin du fährst, weißt auf die Stunde genau, wann du ankommst, und weißt, daß du freundlichst erwartet bist. Und ebenso weiß man in London, in Paris, in Buenos Aires und New York in jeder Stunde, an welchem Punkte des Weltalls das Schiff sich eben befindet. Und nur eine kleine Treppe hinauf mußt du zwanzig rasche Schritte gehen, und ein gehorsamer Funke springt vom Apparat der drahtlosen Telegraphie weg und trägt deine Frage, deinen Gruß an jeden Ort der Erde, und in einer Stunde hast du von überall auf Erden Botschaft zurück. Erinnere dich, du Ungeduldiger, erinnere dich, du Ungenügsamer, wie dies vordem war! Vergleiche doch einen Augenblick diese Fahrt mit jenen von einst, vor allem mit den ersten Fahrten jener Verwegenen, welche diese riesigen Meere, welche die Welt erst für uns entdeckten, und schäme dich vor ihnen! Versuche es dir vorzustellen, wie sie damals auf ihren winzigen Fischerkuttern ausfuhren ins Unbekannte, unkund des Weges, ganz im Unendlichen verloren, ununterbrochen ausgesetzt der Gefahr, preisgegeben jeder Unbill des Wetters, jeder Qual der Entbehrung. Kein Licht des Nachts, kein Trank als das brackige und laue Wasser der Fässer und das aufgefangene des Regens, keine andere Speise als den verkrusteten Zwieback und den gepökelten ranzigen Speck und selbst dies Kärglichste der Nahrung oft durch Tage und Tage entbehrend. Kein Bett und kein Raum des Rastens, teuflisch die Hitze, erbarmungslos die Kälte und dazu das Bewußtsein, allein zu sein, rettungslos allein, in dieser unbarmherzigen Wüste des Wassers. Niemand daheim wußte monatelang, jahrelang, wo sie waren, und sie selber nicht, wohin sie gingen. Not fuhr mit ihnen, Tod umstand sie in tausendfältigen Formen zu Wasser und zu Land, Gefahr erwartete sie von Mensch und Element, und monatelang, jahrelang, ewig umrundete sie auf ihren armen, erbärmlichen Schiffen die entsetzlichste Einsamkeit. Niemand, sie wußten es, konnte ihnen helfen, kein Segel, sie wußten es, würde ihnen durch Monate und Monate begegnen in diesen unbefahrenen Gewässern, niemand sie erretten können aus Not und Gefahr, niemand Bericht geben über ihren Tod, ihren Untergang. Und ich mußte nur anfangen, diese ersten Fahrten der Konquistadoren des Meeres mir innerlich auszudenken, und war schon tief beschämt über meine Ungeduld.“

Diese Scham, von der Zweig spricht, begleitet auch meine Atlantiküberfahrt. Es ist ein sonderbares Privileg, eine solche Seereise aus Jux und Tollerei zu tun, während andere aus purer Not, Existenzangst oder der Hoffnung auf ein besseres Leben übersetzen über Wasser und Welle. Diese Scham – vielleicht ist es Demut – versuche ich wach zu halten, auch und insbesondere in den ruhigen Stunden der Nachtwache.
Während die Rudergängerin aufmerksam den Bewegungen der Nadel folgt, die in dieser Gegend gut 15 Grad westlicher zeigt als der Kurs auf der Karte vorsieht, und der Ausguck in die Schwärze sieht, blicke ich hoch. All die Gestirne lassen mich daran denken, wie viele Menschen auf See zu ebendiesen Begleitern hochblickten und -blicken – ohne einem so klar und sicher erkennbaren Horizont vor und hinter sich, wie wir ihn haben.

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